Die Anfänge im Chor sind nicht immer leicht
Chorklang

Ich gestehe, ich habe nur minimale Erfahrungen im Chorsingen. Im Rahmen des Stimmbildungsseminars war es Pflicht, auch im Universitätschor mitzusingen. Nach 20 Jahren habe ich
die Strenge des Chorleiters nicht vergessen: „nicht schwätzen (keine einzige Silbe!) und gerade sitzen.“

Auch die Übungen zum Lockern der Stimmbänder – seufzen, stöhnen und schütteln – sind mir negativ in Erinnerung. Ich fühlte mich von der ersten Minute an unwohl und dieses Gefühl blieb zunächst. Alles war so ungewohnt und singen konnte ich nicht. Besser wurde es, als wir die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach einstudierten. Nicht, dass ich den Noten immer hätte folgen können, aber am Ende, als alle Stimmen ertönten, als Instrumentenklang die Kirche erfüllte und die einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenwuchsen, kribbelte es im Bauch, zum ersten Mal. Das war wunderschön und hätte gern so bleiben können. Stattdessen ein brutaler Absturz: Das nächste Stück war von Frank Martin. Die Proben grauenhaft. Die Sängerinnen und Sänger gereizt, missmutig und maulend. Der Chorleiter genervt. Ich kurz davor, aufzuhören und die Tage zählend, bis der Schrecken ein Ende haben sollte. Dann die erste Probe mit den Instrumenten. Da war es wieder, dieses Kribbeln, wenn sich die einzelne Stimme mit anderen zum Chorgesang vereint. Wenn aus Musik eine Botschaft wird. Wenn es unter die Haut geht und man innerlich vibriert. Es war eine Steigerung – zumindest bei mir. Martin hatte Bach geschlagen. Nach der Aufführung war ich regelrecht elektrisiert. Aufgehört habe ich dennoch. Geblieben aber ist dieses Erleben, was aus einzelnen Stimmen werden kann, wenn sie zusammenklingen, und wie das, was unter die Haut geht, die Saiten unserer Seele zum Schwingen bringt; Echo von etwas Himmlischem ist. Ich habe trotzdem aufgehört, aber es gibt Hunderte von Menschen, die sich in der Nürnberger Innenstadt zu Chören zusammengeschlossen haben. Was steckt dahinter? Warum erfreuen sich (fast) alle Menschen an Gesang? Und was hat das mit Gott zu tun?

Singen ist die Muttersprache der Menschen, das behauptet der große Yehudin Menuhin. Alle Völker singen und haben ihre eigenen Melodien. Singen ist etwas, was uns im Blut liegt, Emotionen weckt, die Traurigkeit ein wenig trauriger macht und dann doch mit jedem Ton tröstet und den Jubel so stark macht, dass wir tanzen. Gesang bringt etwas in uns zum Schwingen, er „rockt“ und erzeugt Gänsehaut, lässt uns strahlen, rührt uns zu Tränen. Wenn die Musik tief in uns eindringt, dann können wir gar nicht anders, dann summen und brummen wir mit: verhalten unter der Dusche, leise im Konzert, und, wo wir’s uns leisten können, befreit und laut, ohne Rücksicht darauf, was andere denken könnten. Manchmal wirkt das sogar ansteckend. „Wenn du singst, sing nicht allein, steck andere an, Singen kann Kreise ziehn!“ Wenn Gesang die Muttersprache der Menschen ist, dann ist klar, dass schon die Kleinsten darauf reagieren und nach ihrer Art mitsingen.
Manchmal wird daraus gar ein Chor! – Jeden Montagnachmittag treffen sich die „Klangfänger“ in St. Jakob. Das sind die Nachwuchssänger des Windsbacher Knabenchores. Zuerst wuseln alle herum. Straßenschuhe aus und Hausschuhe an. Noch schnell den Roller in die Ecke gepfeffert und schon geht´s los. Still wird es plötzlich. Faszinierend, mit welcher Aufmerksamkeit die Jungs ihre Übungen machen und Lieder lernen. Zweimal im Jahr bringen sie das Gelernte im Gottesdienst ein. Jeder Besucher kann dann die Hingabe spüren, mit der sie dabei sind, und den Zusammenhalt in der Gruppe. Es soll perfekt sein (auch wenn nicht jeder Ton sitzt), jeder soll richtig stehen und ordentlich den Mund aufmachen. Sie beflügeln sich gegenseitig, ermahnen und helfen einander und sind (zu Recht!) sehr stolz auf das, was sie mit ihren sechs bis neun Jahren schon können.
Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen habe ich herauszufinden versucht, was für die Beteiligten so faszinierend am Chorgesang ist. Stimmt das, was für die Kleinen gilt, auch für Erwachsene? – Ich habe etliche Gespräche mit Chorsängern geführt und viele Rückmeldungen bekommen – herzlichen Dank dafür! Was dabei herausgekommen ist, ist kein wissenschaftlicher Artikel, gewährt aber doch einen Einblick in die Chorlandschaft unserer Innenstadt.

Mit Kirchen-, Konzert-, Kammer- und Oratorienchören sind wir im Zentrum Nürnbergs wirklich gesegnet. An St. Egidien, St. Lorenz und St. Sebald wird Erstklassiges geboten: Werke aus Renaissance und Frühbarock, neben Bach, Mozart oder Mendelsson-Bartholdy auch neue Kompositionen. Die Aufführungen werden als „spektakulär“ oder als „Höhepunkte der Konzertsaison“ gefeiert.

Was bringt Menschen dazu, mitzusingen?
Mein erster Gesprächspartner erschreckt mich fast mit seiner nüchternen Antwort: „Ich singe mit aus ehehygienischen Gründen.“ – Jede Woche war seine Frau mit Begeisterung zum Singen gegangen. Schließlich wollte er auch dabei sein und sie nicht immer allein gehen lassen. Die weitere Recherche zeigt: Es gibt nicht wenige Ehepaare unter den Chorsängern. Manche haben gar erst im Chor zueinander gefunden. Musik bringt also nicht nur die Seele zum Klingen, sondern öffnet auch das Herz für die Liebe.
Ohne Frage ist es zuallererst die Musik, die Menschen motiviert, sich einem Chor anzuschließen. Am zweithäufigsten wird die Gemeinschaft genannt. „Mir hat es immer viel bedeutet, wenn ich umziehen musste, an meinem neuen Wohnort einen Chor zum Mitsingen zu finden: Da weiß ich, dass man Leute trifft, die eine Gemeinsamkeit mit mir teilen, nämlich die Liebe zur Musik, und es lassen sich von da aus neue Kontakte aufbauen. In einem Kirchenchor oder Oratorienchor mache ich darüber hinaus noch die Erfahrung, welch schöne Kirchenmusik es gibt, die die Menschen verbindet. Denn das vertonte Wort Gottes prägt sich viel tiefer ein und berührt auf ganz eigene Weise.“ Ein Gesprächpartner hat die Erfahrung gemacht, dass die Anfänge im Chor nicht immer leicht sind. So schnell nähme einen die Chorgemeinschaft nicht auf. Man müsse sich zuerst ein wenig beweisen und zeigen, dass man mithalten könne. In seinem Chor gäbe es einmal im Monat ein geselliges Beieinander, mit Zeit zum Plaudern, Lachen und Schwätzen. Dazu sei er erst nach einem Jahr eingeladen worden, was ihn doch geärgert habe. Jetzt sei das anders, jetzt lädt er jeden Neuen und jede Neue sofort dazu ein. Doch auch Eitelkeiten, erfahre ich, stören die Chorgemeinschaft. Es gibt immer Sängerinnen und Sänger, die sich für besser halten als die anderen. Schwierig ist es, wenn sie sich in den Mittelpunkt stellen, und noch schwieriger, wenn ihre Eigenwahrnehmung nicht mit der Realität übereinstimmt.
Und was, wenn einer überhaupt nicht singen kann? Einige suchen sich einen Chor vor allem, um Kontakte zu schließen und unter Menschen zu sein. Wenn sie dann nicht singen können, kann das schlimm werden. Ein Ton daneben ist schrecklich für die anderen. Doch wer sagt es so jemandem? Manchmal ein genervter Nebenmann; gewöhnlich hat diese Aufgabe der Chorleiter. Verletzungen bleiben da nicht aus. Übrigens: Für diese Fälle hat einer die „Ich kann nicht singen“ Chöre erfunden. Ein Erfolgsmodell, weil alle erst mal falsch anfangen dürfen und so tatsächlich manche Nichtsänger zu Sängern werden.

Die Aufführung als Ziel
Jede Gemeinschaft braucht einen inneren Zusammenhalt, eine Gemeinsamkeit. Beim Chor könnte es die Musik und das gemeinsame Singen sein. Doch schon bald merke ich: Das allein reicht nicht. Im Chor geht es immer um ein Ziel, nämlich die nächste Aufführung. Auf diesen Abend wird hin geprobt, geprobt, geprobt. Es ist kontinuierliche Arbeit am Text und mit der Komposition. „Immer mehr scheint auf, was der Komponist wollte, immer mehr wird die im Notenblatt eingesperrte Musik frei, immer mehr ergibt sich zusammen mit dem Text ein schlüssiges Ganzes.“ Wer mitsingt, ist verpflichtet, zu den Proben zu kommen. „Wenn die Christen genauso oft zum Gottesdienst gehen würden wie die SängerInnen zu ihren Chorproben, wären die Kirchen am Sonntag voll.“ Nur so aus Lust und Laune mögen andere Chöre singen, aber die Chöre der Innenstadt haben ein klares Ziel: die Aufführung.

Soli Deo Gloria
Johann Sebastian Bach setzte unter jedes Werk, das er komponierte, die Buchstaben SDG, Soli Deo Gloria, Gott allein zur Ehre. Wollen das die Sängerinnen und Sänger in einem Chor: Gott ehren? Soll ich bei jeder Note denken, dass ich Gott ehre? Ich erinnere mich an das Kribbeln bei der h-Moll-Messe: Das ohnmächtige Zusehen, die Gottesferne, die Verlorenheit, das langsame Sterben – es greift einen an, wenn der Chor das „Crucifixus“ anstimmt. Die Musik, die davon berichtet, ist eine ganz eigene Sprache. Ich konnte das „et resurrexit“ kaum erwarten. Der Himmel öffnete sich in den Tönen zur Osterbotschaft: Der Herr ist auferstanden! Das wurde in die Welt hinausposaunt, gejubelt und die Liebe zum Leben in strahlende Akkorde gefasst. In der „Muttersprache“ des Menschen rührt der Himmel direkt ans Herz. Wir müssen nichts lernen, doch wir verstehen sofort. Wir brauchen niemanden, der etwas übersetzt oder auslegt. Wir fühlen den Schmerz und stimmen ein in den Jubel Gottes, der vergibt und mehr sieht als die Sünde der Menschen. Das erlebt man in der Chorarbeit. Das ist mehr als Musikpädagogik, oder? Zuhörer, Sängerinnen und Sänger sind Augen- und Ohrenzeugen dafür.
„Gotteslob im Chorgesang ist eine unangestrengte Gegenhaltung zum selbstbezogenen Jammern. Wenn es in seiner musikalischen Aufführung gelingt, ist es eine glücklich machende (weil gemeinschaft- und sinnstiftende sowie ästhetische) Geste des Dienens, Gott gegenüber und dem Komponisten gegenüber, der seinerseits mit seinem Werk Gott dient.“

Text: Simone Hahn
Bilder: iStockphoto.com,
Windsbacher Knabenchor

INFO

Wer jetzt Lust auf Chorarbeit hat, melde sich bitte im Innenstadtpfarramt oder bei den Chorleitern, die weiter hinten in der „Citykirche“ vorgestellt werden!

Alle kursiv gedruckten Sätze sind Zitate von Sängerinnen und Sängern aus den Nürnberger Innenstadtchören.