Titelthema
Gedanken zum Andenken

DER SPEICHER IST VOLL
Glücklich, wer einen großen Speicher hat. Denn das Sammeln von Andenken scheint in unserer menschlichen Existenz fest verwurzelt zu sein. So lassen wir uns nach dem Besuch einer Gedenkstätte gerne einmal zum Kauf eines überteuerten Nippes verleiten – ein Stück von ausgesuchter Hässlichkeit, das nun den Wohnzimmerschrank verunstaltet (freilich, über Geschmack lässt sich trefflich streiten). Aber nein, kein böses Wort über die vielen Andenken-Produzenten und Andenken-Verkäufer. Wir gehören schließlich selbst dazu: indem wir unseren Besuch für die Nachwelt mit einer Unzahl an Fotografien dokumentieren, die vor Zeiten noch Bände an Fotoalben gefüllt haben oder mit denen wir unsere Freunde und Verwandten in gähnend-langweiligen Dia-Abenden terrorisiert haben. Der Digitalisierung sei Dank werden unsere Selfies heutzutage automatisch in den schier unendlichen Speicher der Virtualität hochgeladen und in den sozialen Netzwerken verbreitet. Vielleicht aber auch verewigen wir uns gleich selbst vor Ort, indem wir Spuren unseres Besuchs hinterlassen, sei es mit einem Eintrag ins Gästebuch oder einer Kritzelei auf einer Wand, was schon im alten Rom gang und gäbe war: „Wir kamen sehr gerne hierher, noch lieber wollen wir nun wieder gehen“ (Venimus hoc cupidi, multo magis ire cupido). Andenken sind Erinnerungsstücke, die zur Musealisierung unserer Lebenswelt beitragen und die zu einer Fundgrube künftiger Historiker oder doch nur zu einer Last unserer Nachkommen werden, die dann vor der Frage stehen, was von diesem Ramsch sie tatsächlich aufheben sollen, was sich vielleicht noch zu Geld machen lässt (wenn auf Trödelmärkten der Zukunft unsere CD-Sammlungen oder unsere Smartphones als Raritäten einer fernen Vergangenheit feilgeboten werden), oder was man einfach schmerzlos und schnell entsorgen kann.

DENK ICH AN…
In den 1980er Jahren veröffentlichte der französische Historiker Pierre Nora (geb. 1931) eine siebenbändige Geschichte der Erinnerungsorte Frankreichs. Dabei ist der Begriff des „Ortes“ in einem weiteren Sinn gebraucht, denn zu einem „Ort“ des Gedächtnisses kann alles werden, was zu einer nationalen Identitätsbildung beigetragen hat. Neben tatsächlichen Orten wie Gebäude, Plätze und Denkmäler auch Orte im übertragenen Sinne wie Jahrestage, Institutionen und sogar Schriftstücke. Von Interesse ist dabei nicht die Vergangenheit als solche, die vermeintlich objektiv von den Historikern und Archäologen festgestellt werden kann, sondern die erinnerte Vergangenheit. In der Erinnerung aber wirkt die Vergangenheit oftmals mit großer Macht in die Gegenwart hinein. In Deutschland ist die Diskussion um die Gegenwart der Vergangenheit etwas anders verlaufen. Aber auch hier wurden Anfang der 2000er Jahre von Étienne François (geb. 1943) und Hagen Schulze (1943–2014) drei Bände mit Deutschen Erinnerungsorten publiziert. Darin finden sich Orte wie Nürnberg, Denker wie Goethe und Identitäten wie die Nationalhymne. Erinnerungsorte sind aber u.a. auch: Der Volkswagen, Die Mauer, Auschwitz, Die Reformation, der Begriff der „Pflicht“, Die D-Mark, Der Sozialstaat, Das Bauhaus, Der Duden, Weihnachten, Der Schrebergarten, Der Wandervogel und Beethovens Neunte. In einem eigenen Kapitel geht es sogar um „Glaube und Bekenntnis“, in dem natürlich Johann Sebastian Bach nicht fehlen darf. Wieder ein wenig anders gelagert ist das von den Kirchenhistorikern Christoph Markschies (geb. 1962) und Hubert Wolf (geb. 1959) herausgegebene Werk: Erinnerungsorte des Christentums. Das ist schon darin begründet, dass das Christentum über die Grenzen von Völkern und Nationen hinweg geht. Im Christentum gibt es Erinnerungsorte, die von Christen auf der ganzen Welt geteilt werden, und die auch über die Konfessionsgrenzen hinweg Christen miteinander verbinden. Daneben wird es immer auch konfessionsspezifische Erinnerungsorte geben, die gleichwohl eine Bedeutung für mehrere Konfessionen haben können, man denke nur an die Reformation, die ja auch für die katholische Kirche ein einschneidendes Ereignis war und zu den Reformen im Trienter Konzil geführt hat. Das unterscheidend Besondere gegenüber den Erinnerungsorten von Nationen ist aber im Wesen des Christentums selbst begründet: Das Christentum ist nicht nur nebensächlich, sondern wesentlich eine Erinnerungsreligion („das tut zu meinem Gedächtnis“, Lk 22,19) – und darin zeigt sich die Verwandtschaft mit dem Judentum, wo das Gedächtnis des Glaubens eine noch viel zentralere Rolle spielt als im Christentum („Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige HERR.“ Ps 111,4). Als Erinnerungsorte des Christentums dürfen demnach u.a. gelten: zentrale Orte wie Jerusalem, Rom, Konstantinopel, Genf oder Wittenberg, aber auch symbolische Orte wie das Kreuz, das Gesangbuch oder die Bibel. Es wäre müßig die Auswahl der Orte zu bemängeln, da es immer einen Ort geben wird, der dem einen oder der anderen wichtig ist, aber nicht berücksichtigt werden konnte, weil man sich für ein solches Werk notwendigerweise begrenzen muss.

Im Gegenzug wird man sich relativ einfach auf Jerusalem oder die Bibel als bedeutsame Erinnerungsorte für alle Christen einigen können. Die Bedeutsamkeit dieser Erinnerungsorte besteht nicht nur in ihrer allgemeinen historischen Relevanz für den christlichen Glauben, was sich für die Stadt Jerusalem von selbst versteht, im Sinne alles dessen, was an diesem Ort in der Vergangenheit einmal geschehen ist und sich gewissermaßenan diesem Ort eingeschrieben hat. Die Bedeutsamkeit dieser Erinnerungsorte besteht vielmehr in dem, was jede und jeder mit einem Erinnerungsort verbindet, als die persönliche Geschichte – und zwar als das, was heute noch lebendig gelebt wird und die Identität des eigenen aber auch des gemeinschaftlichen Glaubens stiftet.

KIRCHEN ERZÄHLEN VOM GLAUBEN
Natürlich darf in dem besagten Werk ein Artikel zu Kirchen als Erinnerungsorten des Christentums nicht fehlen. Kirchen waren schon seit jeher Erinnerungsorte – als Monumente des Christentums nach außen und als Vergegenwärtigung des Glaubens nach innen. Und dieser Glaube hat Spuren in der Ausstattung von Kirchen hinterlassen. Weil im Mittelalter die memoria zu den wichtigsten Aufgaben der Kirche gehörte, haben Menschen zu ihrem Gedächtnis Kunstwerke gestiftet oder Gottesdienste eingerichtet. So fragwürdig aus evangelischer Sicht die Stiftung der Kunstwerke auch gewesen sein mag, so wird in ihnen doch der persönliche Glaube einer vergangenen Zeit bewahrt, der – mit aller Vorsicht im Detail – auch für den heutigen Menschen noch eine Botschaft enthalten kann. Haben sich die mittelalterlichen Stifter in gewisser Weise mit und in ihren Stiftungen verewigt, indem bis heute ihr Name mit einem Kunstwerk verbunden wird, so hat sich dieses Privileg in späterer Zeit – wenn auch nur sehr eingeschränkt – auf weitere Personenkreise ausgeweitet. Seit Ende des 16. Jahrhunderts wurde es nämlich zunehmen üblich, das Kirchengestühl in den Kirchen zu vermieten bzw. zu verkaufen. An den erworbenen Kirchenstuhl konnte dann eine Plakette mit dem Namen des Besitzers befestigt werden. In manchen Kirchen sind diese Plaketten bis heute erhalten geblieben und zeugen von einer Tradition, die mancherorts bis ins 20. Jahrhundert hinein lebendig geblieben war. Auch wenn uns das Erwerben und innerfamiliäre Weitervererben eines Kirchenstuhls heute merkwürdig erscheinen mag, so ist die Sache doch vielen regelmäßigen Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern vertraut. Vielen ist „ihr“ Platz im Gottesdienst mit der Zeit lieb und teuer geworden, so dass sie immer an ein und demselben Platz sitzen (und wehe, wenn es ein anderer wagt, diesen Platz einzunehmen). Den eigenen Platz im Raum der Kirche gefunden haben – auch das gehört zum Erinnerungsort Kirche und zur  Erinnerungskultur des Christentums.

(Text: Thomas Melzl, Foto: iStockphoto.com)