Titelthema
Glück im Unglück?

Dietrich Klinges Skulpturen berühren die Lebenserfahrungen ihrer Betrachter. Wir verlängern die Ausstellung bis Ende August in St. Sebald und St. Egidien und bieten hier einen Einblick in die Besucherreaktionen.

„Et – und, auch… Stillschweigende Dialoge“ hat der Künstler die Kooperationsausstellung zwischen St. Sebald und St. Egidien genannt. Einen Dialog hat sie nicht nur zwischen den beiden Kirchen und nicht nur zwischen den Skulpturen und den Kirchenräumen hergestellt, in denen sie stehen, sondern besonders auch zwischen den Werken und den Betrachtern aus aller Herren Länder. Bis hinein in dialogische Reaktionen im Gästebuch lässt sich das nachverfolgen. 

„Toller Ort für stille Dialoge mit einer beeindruckenden Kunst“, schreibt ein Besucher und bedankt sich für die wunderbare Idee der „wertvollen“ Ausstellung, die „Stimme der Stillen“ sei, wie es ein anderer ausdrückt. Wieder ein anderer ist so „überwältigt“ von den Figuren, dass er sie „fast mit den Fingerspitzen nachfühlen“ will. Er oder sie konnte „in der Figur mit dem schmerzverzerrten Gesicht in der Sebalduskirche … den Schmerz direkt körperlich spüren“.

Angesichts des Leides brechen sich Bitt- und Gebetsaussagen Bahn: „guerras no màs! – keine Kriege mehr“ fordert jemand und ein anderer Eintrag fasst sein Anliegen mit dem Vaterunser zusammen: „Vater unser im Himmel… usw.“

Aber auch die Einträge im Gästebuch selbst werden reflektiert: „Die Ausstellung … bringt viele Leute zum Nachdenken“, stellt eine junge Betrachterin fest. „Selbst ich muss die ganze Zeit nachdenken und überlegen, was das zu bedeuten hat.“ Sie führt das auf das Thema der Gefühle zurück, ohne weiter auf sie einzugehen.


Ausstellungsverlängerung

in St. Egidien und St. Sebald

Wer 40 weitere Skulpturen von Dietrich Klinge betrachten will – jetzt im städtischen Raum, kann dies bis 27. September auf der „Ansbacher Skulpurenmeile“ tun.


Neben den Dankaussagen in vielen Sprachen finden sich auch kritische Stimmen: „Gott ist aus diesem Haus längst ausgezogen. Was macht Ihr mit unseren Kirchen?“ lautet eine Eintragung vom 27. Juni. Tags darauf folgt die Antwort eines anderen Besuchers: „Aber nein, er ist eingezogen, aber anders als wir es gewohnt sind. Denn es zeigt eine zerbrechliche oder schon gebrochene Welt. Er ist immer da wo wir ihn einlassen.“ Auch später bezieht sich noch jemand auf die kritische Eintragung vom 27. Juni: „Gott lebt in diesem Haus, und auch Menschen finden hierher und finden ihn. So sollen Gotteshäuser sein“.

„Ja, anders als auf den ersten Blick erwartet. Der erste Blick mag oft täuschen. Der Klang verrät es: Metall statt Holz“ stellt ein anderer Besucher fest, der überrascht ist vom Material der Skulpturen.

Mich führt dieser „zweite Blick“ zur Frage, ob es auch Glückserfahrungen in tiefer Not gibt. Ein Geburtstagsbesuch gab dazu den Anstoß: 

Die 94jährige Dame öffnet mir die Tür und führt mich auf ihre Terrasse. Schnell kommt das Gespräch auf ihr langes Leben. „Bei mir hat das Glück recht oft angeklopft“, sagt sie und man meint die Lebensfreude und Zufriedenheit in ihrem Gesicht ablesen zu können. Die Jubilarin fährt aber anders fort, als ich es erwartet hatte: „Der glücklichste Moment in meinem Leben war im größten Unglück.“ Ob man so etwas sagen dürfe, fragt sie und erzählt von den Leiderfahrungen, die sie mit der Kriegsgeneration verbindet. Sie erzählt vom Tod des Bruders an der Front und von dem des Verlobten auf der Heimatreise zur Hochzeit, wo er von der Feiergesellschaft erwartet wurde. Sie spricht von der Trennung von ihren

Eltern in den Kriegswirren, von Vertreibung und wie sie schließlich alleine nach Dresden kam. Dort trifft sie wie durch ein Wunder wieder auf ihre Eltern. Dieser Moment, wie sich die Familie wieder in den Armen lag, ist der glücklichste Moment der 94jährigen. Bis heute. Selbst wenn noch viele schöne und heitere Momente in dem langen Leben folgten, auf die sie dankbar zurückblickt. „Daraus entstand Dankbarkeit; und diese Dankbarkeit gibt mir Zufriedenheit und Kraft.“

Auf dem Heimweg denke ich darüber nach, wie auch jene Kunstwerke von Dietrich Klinge solche Erfahrungen aussagen: Leid, Unglück und Glück zugleich. Der Glaube nennt es Segen. „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen …“ sagt Joseph zu seinen Brüdern (1. Mose 50, 20). Glücksmomente dieser Dimension wünsche ich Ihnen von Herzen.