Kultur
Tanz als Medizin
Leichtfüßige Spiritualität leben im Tanz

Das Wort Kirche atmet Schwere. In der Kirche erlebe ich die Schwere dunkler Räume, den Faltenwurf schwerer Gewänder und höre auf gewichtige Worte, vorgetragen mit ernstem Ton.

Nicht selten geht einer schwermütiger aus der Kirche hinaus als er hineingegangen ist. So und ähnlich höre ich es von Menschen, die sich einer der flüchtigsten Kunst- und Erfahrungsformen zugewandt haben, dem Tanz.

Tanzen ist eine Medizin gegen die Schwere. Zwar zeigen sich die Tänzer unter den Christen meist nur in Nischen – beim Kirchentag, in Bildungshäusern und auf Festivals. Ihre Erfahrungen zum Thema Leichtigkeit in der Spiritualität lassen aber aufhorchen. „Manchmal hat man das Gefühl man schwebt innerlich, weil alles leicht wird“, sagt Sabrina. Hannah erzählt, wie sich die Atmosphäre eines Kirchenraumes in Leichtigkeit wandelte, allein durch das Tanzen.

Wer sich zum Gebet oder zur Bibelarbeit, zum Gottesdienstfeiern oder Meditieren auf tänzerische Formen einlässt, kann mit einer befreienden Erfahrung belohnt werden. Kirchentanz überwindet die Wortlastigkeit in der Kommunikation des Evangeliums. Tanz spricht die Sprache des Körpers, artikuliert von Musik, in der Tiefe strukturiert von der Grammatik der Bewegung, in einer intensiven Gemeinschaft auf Zeit. Tanzende können sich mitnehmen und tragen lassen von Klängen und Formen. Tanz überschreitet die erlernten Vorgaben für christliche Spiritualität. Betende, die gelernt haben, den Kopf zu senken, richten sich auf.

Menschen, die in sich gekehrt die Predigt verarbeiten, befragen ihren Körper auf seine Reaktionen und finden eine individuelle Tanzform für deren implizite Gefühle, Sehnsüchte oder Bewegungsimpulse. Menschen, die nicht mehr im Sitzen meditieren wollen, gehen in den Kreis und bewegen sich, gehen Schritte, halten inne, wenden sich zurück, bürsten die Erde mit den Füßen, hüpfen, drehen und lassen den Schwung durch den ganzen Körper in die Hände die Mittanzenden fließen. Die Tanzwissenschaftlerin Gabriele Huschka verweist auf den immateriellen Status, der zur Bewegung gehört. Im Tanz entsteht ein Fluß, der wie ein Energiestrom Qualitäten und Emotionen überträgt. Da ist schon Nähe zur Spiritualität angelegt!

Das ist nicht jedem in der Kirche recht. Wäre es so, könnten weit öfter Tanzerfahrungen gesammelt und an den passenden Formen gearbeitet werden. Professionalisierung und Vernetzung, wie sie spezialisierte Vereine und Arbeitsgruppen betreiben, könnte die Bewegung weiter voranbringen. Skeptiker vermissen die im Protestantismus so gewichtige subjektive Reflexivität, Innerlichkeit und Individualität sowie die eindeutige Bindung an die reformatorische Auslegung des Christseins. Denn Tanzen ist Tun und das ist problematisch, wenn Spiritualität als Versuch gewertet wird, sich aus eigener Kraft Gott zu nähern. Kirche, sagt man, wäre nicht mehr Kirche, würde sie allen modischen Trends immer wieder Raum geben. Und gemeinschaftliche Gefühlsduselei sei nicht das, was unsere Identität ausmacht.

Ein genauerer Blick auf die Kultur des Kirchentanzes zeigt mehr.

So manche Kritik könnte durch bessere Kenntnis der Szenen gegenstandslos werden (solange sie nicht Spiritualität insgesamt in Frage stellt). Tanzende kultivieren die Sensibilität für Gefühle, sie geben der Körperlichkeit des menschlichen Daseins respektvoll Raum, sie lernen, die eigenen und fremden Bewegungsimpulse in einer Gruppe zu spüren und erkunden die Wirkungen vorsprachlichen Erlebens. Kommunikation ereignet sich dort im Einbringen oder Nachahmen von Bewegung, im Wahrnehmen der Anderen, im Reagieren darauf, dass da Menschen mit einem sind, die sind wie ich. Tanzen inspiriert und verändert theologisches Arbeiten.

Tanz ist im Protestantismus erst vor wenigen Jahrzehnten aufgetaucht. Allerdings ist er mehr als eine Modeerscheinung in der Domäne der Religion. Denn Tanz findet sich in der Religionspraxis vieler Kulturen, etwa der klassische indische Tanz im Hinduismus, der Dreh-Tanz der Derwische in der Mystikbewegung des Islam, Trancetänze in Afrika, und im Judentum eine Fülle von Tänzen für alle. Als Kunst führte Tanz in unserer Kultur lange ein Schattendasein. Seine Geschichte in der industrialisierten Moderne beginnt mit der Suche nach der vergessenen Dimension der Spiritualität. Die Ausdruckstänzerin Ruth St. Denis experimentierte in den USA bereits 1917 mit getanzter Liturgie. Martha Graham sah im Tanz die Sprache der Seele. Rudolf von Laban arbeitete den modern educational dance aus, der Menschen zivilisationsbedingte Trägheit überwinden und die eigenen persönlichkeitsbedingten Antriebe besser kennenlernen lässt. Anna Halprin versteht Tanz als sichtbar gemachten Atem, er macht auf eine besondere Weise lebendig.
Menschen, die in unserer Zeit eine körperfreundliche Spiritualität suchen, in der sie die Erfahrung machen können, dass sich im absichtslosen Tun unverhofft etwas ereignet, sie ganz präsent sein können und sie sich in der Tiefe angenommen fühlen, finden dies beispielsweise – ohne kirchlichen Bezug – in den 5 Rhythmen von Gabrielle Roth, im Trancetanz, im argentinischen Tango, Tanz in der Natur oder der Contactimprovisation. In einen kirchlichen Kontext gestellt können solche Formen ihr Potenzial für christliche Spiritualität entfalten.

Wenn Gemeinden und Bildungswerke sich für Tanzangebote öffnen, lohnt es sich, gut ausgebildete Tanzleiter*innen einzuladen, die Workshops geben und beraten, wenn es darum geht, bewegte Formen von Bibelarbeit, Meditation, Performance und Liturgien zu entwickeln. Auch Tanzgottesdienste finden schon hier und da ihre Fans.

Text: Tatjana Schnütgen, Tänzer: Shang-Chi, Foto: Dr Achim Plum

ÜBER DIE AUTORIN

Pfarrerin Tatjana K. Schnütgen hat mit einer Arbeit über die Spiritualität des Kirchen-
tanzes promoviert. Wenn sie tanzt, findet sie Leichtigkeit im Modern Dance, Tanztheater, argentinischen Tango und in der Improvisation. Sie leitet hin und wieder Tanzgottesdienste und Workshops.
Außerdem ist sie Mitglied in der Christlichen Arbeitsgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität e.V.

Kontakt: tatjanaschnuetgen@web.de