Titelthema
Die Nacht.
Nacht-Gedanken

Nacht, mehr denn lichte Nacht!
Nacht, lichter als der Tag,
Nacht, heller als die Sonn‘,
in der das Licht geboren,
das Gott, der Licht, in Licht
wohnhaftig, ihm erkoren!
O Nacht,
die alle Nacht‘ und Tage trotzen mag!
Mit diesen Worten besingt der Mystiker Andreas Gryphius die Weih-Nacht. Nacht der Nächte wird sie genannt – geheimnisvoll und mythenumrankt, Ziel der Sehnsucht und Höhepunkt der Winterzeit.
Dunkel muss es sein! Weihnachtsgottesdienst am helllichten Tage? In unseren Breitengraden nur schwer vorstellbar…

Die Nacht.
Ein ambivalent erfahrener Raum, seit jeher mit unterschiedlichen Gefühlen und Attributen besetzt: Angst und Sehnsucht, Wohlbefinden und Neugier, Gefahr und Erotik.
Dunkelheit ist ihre wichtigste Eigenschaft, Nachtschlaf und Ruhe eng damit verbunden.
Erst die Erfindung des künstlichen Lichtes und die Straßenbeleuchtung der Städte brachte gravierende Veränderungen: Über Jahrtausende hinweg waren Finsternis und Arbeitsruhe gesetzt. Nun ist die Nacht zum Tag geworden. Arbeit, Aktivität, Geselligkeit – alles ist möglich.

Trotz ausgedehnten Nachtlebens ist der Nacht weder ihr Schrecken noch ihre Besonderheit genommen.
Im Volksglauben früherer Zeiten war die Nacht die Zeit der Geister und Gespenster; auch heute noch ist sie Symbol für Bedrohung, Einsamkeit und Tod. Von ihrer besonderen Gefährdung können nicht nur Mitarbeiter der Telefonseelsorge und Krisendienste berichten.
So verwundert es nicht, dass das Motiv der Nacht in Literatur und Musik eine tragende Rolle spielt. Irrationales wird hier ergründet, Grundfragen des Seins bedacht. Wer je eine Nacht wachgelegen hat und vergeblich den Schlaf suchte, weiß davon zu erzählen.

Auch und gerade die Bibel ist voll von Nacht-Geschichten. In nächtlichen Träumen erscheint Gott immer wieder den Menschen.
Ein unvergleichlich starkes Bild ist die Himmelsleiter (1. Mose 28), auf der Engel zwischen Himmel und Erde auf- und absteigen und an deren Fuß der schlafende Jakob liegt. Im Traum sagt Gott ihm Begleitung und Treue zu. Die Nacht als Wendepunkt in seinem Leben.

Im Neuen Testament warten zehn Jungfrauen des Nachts auf den Bräutigam (Matthäus 25). Mitten in der Nacht erscheint er. Für die aus dem Schlaf gerissenen Brautjungfern entscheidet sich nun, wer klug war und wer töricht, wer zur Festgesellschaft gehört und wer nicht. Die Nacht als Wendepunkt in ihrem Leben.

So gehen und gingen Menschen mit unterschiedlichen Gefühlen und Erwartungen in die Nacht. Besonders freilich in die Weih-Nacht.
Das romantische Zusammenspiel von Dunkelheit und heimeligem Kerzenlicht, die warmen Farben von Tannengrün, roten Schleifen und goldenem Bienenwachs: All das weckt eine Sehnsucht nach Wärme und Harmonie. Kaum einer kann sich diesem Zauber entziehen. Dabei liegt auf der Hand: Die Nacht der Geburt Jesu war alles andere als romantisch und heimelig. Aber auch diese Nacht wurde zum vielfältigen Wendepunkt.

Die erste Geburt im Leben einer Frau – egal ob im Kreissaal eines modernen Klinikums oder im Stall von Bethlehem: ein das ganze Leben umwälzendes Ereignis. Danach ist für Maria nichts mehr wie davor.
Die Hirten, müde, kalt, in Routine und Arbeit gefangen: Eine unglaubliche Vision von himmlischen Heerscharen lässt sie über Nacht vom Rand der Gesellschaft zu Helden der Weihnachtsgeschichte des Lukas´ werden.

Die Nacht der Geburt Christi wird zum Wendepunkt der Zeitgeschichte. Seit dem 7. Jahrhundert wird jedes geschichtliche Ereignis eingeteilt in: Ante Christum natum – post Christum natum: Vor bzw. nach Christi Geburt.

Unsere Zeitrechnung orientiert sich an einer Nacht. Nicht an irgendeiner. Sondern an der Nacht aller Nächte. In der Gott mit seiner Liebe in unsere Nacht gekommen ist. Die Nacht bleibt, die Dunkelheit bleibt. Aber das Versprechen von Gottes Gegenwart in Nacht und Dunkelheit gilt seitdem. Und damit wird mancher Nacht der Schrecken genommen.

Text: Annette Lichtenfeld
Foto: Corpus Vitrearum, Archiv St. Sebald, iStockphoto.com
Jochen Klepper schreibt im Jahr 1938:

Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und Schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.

Evangelisches Gesangbuch, Nr. 16