Weihnachten
Stunde Null – Weihnachten 1945 und 2015
Der Norton-Altar von 1945

Wie feierten die Menschen ihr erstes Weihnachtsfest nach Kriegsende? In der Wolfgangskapelle von St. Egidien wird bis zum 6. Januar unter Schirmherrschaft von Landesbischof i.R. Dr. Johannes Friedrich ein Weihnachts-Altar ausgestellt, den deutsche Kriegsgefangene in einem Gemeinschaftsprojekt für ihr erstes Weihnachtsfest nach Kriegsende aus einfachsten Materialien selbst gestaltet haben. Pfarrer Martin Brons hat sich auf Spurensuche begeben und ist dabei auf überraschende Verbindungen zwischen St. Egidien und dem Kriegsgefangenenlager in Norton gestoßen.

Parallel zu dieser Ausstellung werden Flüchtlinge zusammen mit dem Künstler Harald Kienle unter Schirmherrschaft des Diakoniepräsidenten Michael Bammessel ihren Weihnachtsaltar für 2015 gestalten.

Das Jahr 1945 hat wie nur wenige andere Jahre seine Spuren hinterlassen. Spuren in den Städten, die wie in Nürnberg die Zerstörung bis heute erkennen lassen, und Spuren in den Seelen vieler Menschen, die 70 Jahre danach wieder deutlich hervortreten, wenn wir Berichte aus den Kriegsgebieten weltweit hören und Flüchtlinge von dort zu uns kommen. Aus der Erinnerung können wir lernen.
Christus ist das Licht der Hoffnung im Dunkel des Leids – der Erinnerung. Für die Weihnachtsausgabe der Citykirche begebe

 ich mich deshalb auf Spurensuche. Ausgehend von der Ausstellung des Norton-Altars in der Advents- und Weihnachtszeit in St. Egidien habe ich mit Menschen aus unserer Gemeinde über ihr erstes Nachkriegsweihnachten und solchen, die mit dem Norton-Altar in Verbindung stehen, gesprochen. Und diese Spurensuche führte am Ende erstaunlicherweise wieder zurück nach St. Egidien, wo wir den Norton-Altar ausstellen und parallel dazu ein Kunstprojekt von Flüchtlingen mit dem Künstler Harald Kienle entstehen wird.

Die Stunde Null für Egidien…

Ich frage Heinz Rosenbauer (Jahrgang 1936), wo er das erste Mal Weihnachten nach Kriegsende gefeiert hat. Und wie so oft bei Nürnbergern, erinnert er sich bezeichnenderweise an das Fest im Jahr 1944, also neun Tage vor der Zerstörung Nürnbergs. Seinen Eltern gehörte die „Brot- und Feinbäckerei Rosenbauer“ in der Veillodterstraße.

Er erinnert sich so genau an diese Weihnachten, weil er heim durfte. Zu seinem Schutz war er seit 1943 bei Verwandten am Moritzberg untergebracht. Aber zu Weihnachten 1944 durfte „ich heim ins Elternhaus“ sagt er, wo alle noch einmal in der alten Egidienkirche feierten. „In der Bombennacht vom 2. Januar 1945 ist mir dann zweimal das Leben geschenkt worden“ fährt er fort. Einmal, weil die Bombe, die in den Schutzkeller des Hauses vordrang, einen Zeitzünder hatte und den Kellerinsassen eine halbe Stunde Zeit zur Flucht ließ. Und dann, wenig später, als er den Schutzplatz hinter einer Schutzmauer verließ, weil dort ein Zeitzünder explodierte. Gegenüber diesen Eindrücken spielt die Erinnerung an das erste Weihnachtsfest nach Kriegsende eine untergeordnete Rolle. Nach der Bombennacht war die Familie gemeinsam zur Verwandtschaft an den Moritzberg gelaufen, wo sie blieben. Erst Heiligabend 1947 kehrten sie in das provisorisch hergerichtete Haus in der Veillodterstraße zurück. Da muss es auch gewesen sein, dass er das erste Mal die zerstörte Egidienkirche sah. Fünfzig Jahre nach Kriegsende aber versammelte Heinz Rosenbauer seine Familie im Keller, „als Zeichen der Hoffnung und des Dankes, dass wir überleben durften“.

  Wie Heinz Rosenbauer, der später Pfarrer wurde und jetzt mit seiner Frau wieder im Ruhestand in Nürnberg lebt, ist auch Rosemarie Sichler „ein Galsterer-Kind“. So redet die langjährige Kirchenvorsteherin von St. Egidien stolz von Kirchenrat Hermann Galsterer, dem damaligen Gemeindepfarrer von St. Egidien, der zahlreiche Menschen tief geprägt hat. Sie lebt im wiederaufgebauten Haus der Eltern in der Tuchergartenstraße. Das Inferno der Bombennacht verfolgt sie bis heute in ihren Albträumen:
Mit ihrer Mutter läuft sie dann wieder über Leichenteile, aber sie kommt nicht vom Fleck. So liefen die beiden damals durch die Nacht und standen irgendwann vor der brennenden Egidienkirche, in der sie zwei Jahre zuvor noch konfirmiert worden war. Ihr erstes Weihnachtsfest nach Kriegsende feierte sie als „Landplage“ in Kalchreuth, wie viele Städter damals genannt wurden.

… und zeitgleich in England

Nicht ganz drei Jahre bestand das Norton Camp in England, das auch als Kriegsgefangenen-„Hochschule“ oder Studienlager bezeichnet wird. Im August 1945 wurde es eröffnet und im Juni 1948 endgültig geschlossen.

Professor Dr. Jürgen Moltmann benennt es in meinem Gespräch mit ihm über seine Zeit in dem Lager als „großes Geschenk Englands an das Nachkriegsdeutschland“. Denn in dem Lager wurde die geistige Elite, die das Nachkriegsdeutschland wieder aufbauen sollte, durch internationales ideelles und finanzielles Engagement ausgebildet und gefördert. Auch in Frankreich und Italien waren solche Studienlager in Montpellier und Rimini eingerichtet worden. Das Norton-Camp bestand aus drei Teilen, erinnert sich Moltmann: „links das Lager der Pädagogen, rechts das der Theologen und in der Mitte das Abiturlager“, alle gebaut aus den typischen tunnelartigen Blechhütten, den sogenannten Nissenhütten. Er selbst kam erst 1946 in das Studienlager. „Mit sechzehn Jahren wurde ich in die Wehrmacht eingezogen“, das war 1943.

„Diese Jahre und drei Jahre hinterm Stacheldraht waren prägend für mich.“ Das erste Weihnachtsfest nach Kriegsende feierte er als Kriegsgefangener in einem großen Arbeitslager in Schottland. Vor allem ein Bild ist ihm von dem Weihnachtsgottesdienst in Erinnerung geblieben: Der Wehrmachtspfarrer hatte in der Baracke, in der der Gottesdienst stattfand, einen Strohhaufen aufgehäuft, den er in die Predigt einbezog. Es war üblich, dass die Strafgefangenen versuchten, durch provozierte Krankheiten den harten Bedingungen des Arbeitslagers zu entgehen, in der Hoffnung heimgeschickt zu werden. Moltmanns Versuche scheiterten. So war die Anzeige, aus der er von der Existenz des Studienlagers erfuhr, wie eine Erlösung für ihn; und das Lager wurde nicht nur für ihn zum großen Geschenk, sondern auch für die Theologie des 20. Jahrhunderts insgesamt: Im Norton Camp konnte Moltmann sein Abitur nachholen und er entschied sich dort, beeindruckt von der internationalen Versöhnungsarbeit, für das Theologiestudium. „Niemals mehr in meinem Leben habe ich so intensiv Theologie gelebt, wie in diesen zwei Jahren“ sagt er im Rückblick. „Abends, nachdem das Licht abgeschaltet wurde, diskutierten wir stundenlang bis in die Nacht über Theologie weiter.“ Keine abstrakte Theologie war das damals, sondern die Frage nach Gott angesichts des fremden und eigenen Leidens. „Tief verwundet und traumatisiert“ waren die Gefangenen angesprochen von Christi Marter und Tod am Kreuz.

Bis heute kann Moltmann die ersten Predigten, die er vom Lagerpfarrer Halver hörte und die auf das Leiden Bezug nahmen, auswendig wiedergeben. Eine der Nissenhütten wurde zum Ort täglicher Andachten. Der Blick durch die Fenster rechts und links des Altares auf einen Park wurde für Jürgen Moltmann zum Symbol für die Freiheit, die Christus schenkt. Letztendlich führt er seine Theologie des Kreuzes und der Hoffnung auf die traumatisierende Kriegs- und positive Lagererfahrung zurück.

Zeitgleich feierten die Kriegsgefangenen im Studienlager in Norton vor ihrem selbstgestalteten Altar ihr erstes Weihnachtsfest nach Kriegsende. Sie hatten sich bereits vorher gefragt, wie das möglich sein würde. Der damalige Theologiestudent Hans Nickles schreibt dazu in seinen Erinnerungen: „Es kam das erste Weihnachtsfest im ‚Frieden‘. Wie wollten wir feiern, ohne vom Heimweh überwältigt zu werden und doch verbunden zu sein mit denen, die daheim und in aller Welt das Fest der Menschwerdung Gottes feierten, Sieger und Besiegte, Gefangene und Befreite?“ Der Kunsterzieher des Lagers, Werner Oberle, hatte die Idee und gestaltete mit etwa dreißig Mitgefangenen aus einfachstem Material ein eindrucksvolles Weihnachts-Triptychon. Jeder von ihnen malte die ihm zugewiesene Figur auf einen Streifen festen Zeichenpapiers. Aus Kistenabfällen zimmerte Hans Nickles das Altargehäuse, und das Konservendosenblech verwandelte sich in Sterne, Kronen und Gaben der Könige. Bei seiner Entlassung nach Hause nahm Hans Nickles den Altar 1947 mit. Er nagelte zwei Grifflaschen, wie bei einem Schild an die Rückwand des Altares, auf dem auch seine Gefangenennummer steht und trug den Altar wie ein Schild zurück nach Deutschland. So rettete er den Altar, der ihm zuvor zur Rettung wurde und feierte bis zu seinem Tod am 1. Februar 2015 jedes Weihnachtsfest und die Tagzeitengebete vor ihm. „Das Jahr über im geschlossenen Zustand“, wie sein Sohn, Heiner Nickles, erzählt „und erst wenn der Altar an Heiligabend geöffnet wurde, war Weihnachten“. Seine Söhne stimmten nun der Ausstellung in St. Egidien zu.

Die zerstörte Egidienkirche & St. Egidien – heute
Kirchenrat Hermann Galsterer
Landesbischof i.R. Dr. Johannes Friedrich
Professor Dr. Jürgen Moltmann
Die langjährige Kirchenvorsteherin von St. Egidien Rosemarie Sichler

… und 2015 in St. Egidien: Ein Gespräch mit Landesbischof i.R. Dr. Johannes Friedrich über St. Egidien und das Norton Camp

Als ich erfuhr, dass auch der Vater unseres ehemaligen Landesbischofs Dr. Johannes Friedrich, der spätere Theologieprofessor und zeitweilige Rektor des Universität Erlangen D. Gerhard Friedrich, in dem Studienlager inhaftiert und Studienleiter war, rief ich ihn dazu an.

Herr Landesbischof, wie geht es Ihnen?

Mir geht es glänzend. Der Ruhestand ist eine schöne Zeit. Mir geht es gesundheitlich gut und so genieße ich die Zeit zusammen mit meiner Frau. Wir reisen viel. Auch bin ich weiterhin in vielen Gremien eingebunden, wie zum Beispiel als Vorsitzender des Bayerischen Zentralbibelvereins.

Was verbinden Sie mit St. Egidien?

St. Egidien ist mir sehr ans Herz gewachsen. Nirgends war ich länger als Pfarrer tätig als dort, wenn auch in zwei Schüben. Dadurch habe ich St. Egidien aus zwei Blickwinkeln kennengelernt. Zum einen sechs Jahre als Studentenpfarrer (1979-1985) und zum anderen acht Jahre als Dekan (1991-1999), bevor ich zum Landesbischof gewählt wurde. Dadurch, dass ich als Studentenpfarrer auch einen eigenen Seelsorgesprengel hatte, Taufen, Trauungen und Beerdigungen, und neben der normalen Predigttätigkeit auch Familiengottesdienste gestaltet habe, sind mir viele Menschen aus der Zeit ans Herz gewachsen. Dass ich die Menschen und St. Egidien kannte, kam auch meiner Zeit als Dekan zu Gute. 

In der Advents- und Weihnachtszeit werden wir in St. Egidien den Altar aus dem Norton-Camp ausstellen. Was verbinden Sie mit dem Norton Camp?

Natürlich denke ich automatisch an meinen Vater. Ich weiß, dass er dort Kriegsgefangener und Studienleiter war. Ich habe auch immer gewusst, dass Jürgen Moltmann dort sein Abitur gemacht und mit dem Theologiestudium begonnen hat. Mir wurde aber erst spät bewusst, dass zahlreiche Familienfreundschaften sich auf Lagerfreundschaften meines Vaters zurückführen lassen. Mein Vater hat nicht viel über die Zeit im Lager gesprochen. An manche humorvollen Geschichten in all dem Elend, die er uns erzählt hat, erinnere ich mich. Ich selbst habe den Ort Norton nie besucht. Die Zeit muss ihn stark beschäftigt und geprägt haben. Mir ist jetzt bewusst geworden, dass ich mehr mit ihm darüber hätte sprechen sollen, auch, wie die Lagererfahrungen seine Theologie beeinflusst haben. All diese Fragen stelle ich mir jetzt vor der Ausstellung des Norton-Altars in St. Egidien. 

Ich freue mich, dass wir am 27. Dezember vor dem Altar gemeinsam Gottesdienst feiern werden. St. Egidien hat eine lange Tradition als Predigtkirche. Herr Landesbischof, dürfen wir Sie als Ehrenprediger von St. Egidien gewinnen?

Das finde ich sehr ehrenvoll und ich freue mich sehr darüber. Ich fühle mich Egidien verpflichtet und hänge an der Kirche. 

Lieber Herr Landesbischof, vielen Dank für das Gespräch!
(Text: Martin Brons, Bilder: Archiv St. Egidien, Wikipedia Commons, privat)