Interview
HIER STEHE ICH: JUGENDBEWEGUNG
Was uns umtreibt

Die Jugendbewegung des Jahres 1968 hat zu wichtigen gesellschaftlichen Veränderungen in Deutschland geführt, aber auch in Europa und den USA. Schüler- und Studentenproteste, Hippiekultur, die Flower-Power-Bewegung und vor allem die Pop-Musik haben die Zeit vor 50 Jahren geprägt.

Die einen wollten das so genannte Establishment aus den Angeln heben, die anderen haben diese jungen Leute mit langen Haaren und Bärten als „Gammler“ diskriminiert. Wofür stand die Jugendbewegung damals und inwieweit wollen junge Leute von heute noch etwas bewegen? Die Redaktionskonferenz hat zwei ihrer Mitglieder gebeten, diese Frage über die Generationsgrenzen hinweg zu diskutieren.

Hannah Friedrich, Jahrgang 1997, studiert Politikwissenschaft und Kulturgeographie, studienbegleitende Ausbildung zur Journalistin.
Paul Schremser, Jahrgang 1952, Diakon und Redakteur, ehrenamtlicher Kirchenvorsteher in St. Sebald.

 
Paul Schremser (PS): Ich muss vorausschicken, dass ich die Studentenbewegung rund um das Jahr 1968 nur aus den Medien gekannt habe. Ich war noch Schüler, sechzehn Jahre alt. Aber ich habe das als eine wilde Zeit in Erinnerung, mit Schulstreiks und Demonstrationen. Es ging um die Veränderung der Gesellschaft. Ich fühle mich im Geist als Teil davon, aber ich war eigentlich 1968 noch zu jung, um zu verstehen, worum es wirklich gegangen ist.

Hannah Friedrich (HF): Ich bin jetzt mit 20 schon deutlich älter und habe eine reflektiertere Haltung zu vielen Themen als Sie damals. Aber Demos oder so… Meine Eltern haben mich mal zu einer Demo mitgenommen. Da war ich vielleicht zehn Jahre alt. Das war die einzige Demo, auf der ich je war. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, warum ich danach nie hingegangen bin. Es gab diese „Pulse of Europe“-Demos. Als viele Leute dort waren und es richtig Spaß gemacht hätte, dabei zu sein, hatte ich keine Zeit. Später war dann die erste allgemeine Begeisterung schon wieder abgeflaut. Und meine dann irgendwie auch.

PS: Ob man wirklich bei einer Demo persönlich dabei ist oder die Sache zumindest im Geist unterstützt, beides ist eine ganze Menge wert. Als ich älter geworden bin, habe ich die Erfahrung gemacht, dass man durch Demos tatsächlich ganz viel bewegen kann. Wir haben in Wackersdorf gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage und später gegen die Atomwaffen in der Bundesrepublik demonstriert, gemeinsam mit den Christen in der DDR unter dem Stichwort „Schwerter zu Pflugscharen“. Was bei mir als Jugendlichem an politischen Einstellungen schon gelegt wurde, ist dann im Erwachsenenalter aufgegangen. Zum Beispiel das Friedensthema. Wie wir sehen, ist das auch in unserer Zeit wieder ganz aktuell.

HF: Das ist ein Thema, das immer aktuell sein wird. So traurig das auch ist. Man sollte sich in Erinnerung rufen, dass es nicht überall so friedlich wie bei uns ist. Es ist wichtig, dass wir wissen: Es gibt Menschen, die auf der Flucht sind vor Krieg, vor Gewalt, vor Hunger. Und dass wir wissen: Es ist nicht selbstverständlich, so ein gutes Leben zu haben wie wir.

PS: Aber so gut ist es doch gar nicht, wenn ich das Thema „Sozialer Frieden“ anspreche. Viele Leute bei uns müssen in Armut leben. Und viele Kinder sind davon betroffen, das lässt mich nicht ruhen!

HF: Trotzdem ist die Situation bei uns im Vergleich zu vielen anderen Ländern so viel besser. Klar, es ist kein Idealzustand, den wir hier haben. Besser geht immer. Ich meine nur, dass wir ab und zu einen Schritt zurücktreten und uns anschauen sollten, was für hohe Ansprüche wir schon haben. Zum Beispiel beschweren wir uns darüber, dass die Krankenkassen viele alternative Heilmethoden nicht finanzieren. Natürlich bin ich der Meinung, dass die Krankenkassen so etwas übernehmen sollten. Andererseits gibt es ganz viele Länder, in denen das Gesundheitssystem nicht so flächendeckend ist wie hier.

PS: Ich beklage aber, dass es zum Beispiel Frauen gibt, die mit 800 Euro Rente im Monat klarkommen müssen. Für die ist es elementar, ob sie die Tabletten selber bezahlen müssen oder ob die von der Kasse übernommen werden. Es geht mir nicht ums Jammern. Dennoch: Diese Welt könnte noch besser sein. Und zwar nicht so ganz allgemein, sondern dass wir darauf achten, wer in unserer Gesellschaft die Armen und Schwachen sind und was diese Menschen an Unterstützung und Hilfe brauchen.

HF: Ich stimme Ihnen da durchaus zu. So, wie es jetzt ist, ist es nicht perfekt und es kann und sollte immer besser werden. Es ist keine Option, sich zurückzulehnen und zu sagen: Uns geht es doch besser als den meisten anderen. Man muss trotzdem weiter in Bildung und Gesundheit investieren und generell in alles, was den sozial Schwachen helfen kann.

PS: Die Frage ist doch: Was kann ich als einzelner verändern? Alleine kann ich wenig tun. Aber ich weiß mich verbunden mit vielen anderen Leuten.

HF: Jeder sollte einfach das tun, was ihm möglich ist. Nicht jeder muss gleich die Welt retten. Aber jeder sollte versuchen, zur Welt-
rettung beizutragen. Vielleicht, indem man sich ehrenamtlich engagiert. Ich helfe zum Beispiel einmal in der Woche Grundschulkindern bei den Hausaufgaben.
Man könnte auch in der Suppenküche aushelfen. Es reicht ja schon, wenn man zu Weihnachten an Hilfsorganisationen spendet. Wenn ich den Kindern hier bei den Hausaufgaben helfe, rette ich keine hungernden Kinder in Afrika. Aber es hilft den Kindern, die in meiner Reichweite sind.

PS: Wenn ich zurückblicke auf die Jugendbewegung der 68er und der darauffolgenden Jahre, dann war das wirklich eine Bewegung, die durch die gesamte junge Gesellschaft gegangen ist. Heute habe ich eher den Eindruck, dass die Standpunkte von jungen Menschen ganz unterschiedlich sind und individuell. Es gibt kaum etwas, wo viele sagen: Hier lohnt es sich, dafür einzustehen. Sehe ich das richtig?

HF: Ich stimme Ihnen zu, was die unterschiedlichen und individuellen Standpunkte betrifft. Was in meinem Umfeld häufig ist, sind Standpunkte wie „pro-Europa“ und „pro-EU“, aber „anti-Trump“, Meinungen wie „wir haben eine Verantwortung für diese Flüchtlinge“ und die Auffassung, dass der Klimawandel gestoppt werden muss, auch wenn es der Wirtschaft wehtut. Das sind grobe Linien, die sich durchziehen.
Aber es gibt momentan keine alle mobilisierende Bewegung, wie ich es aus dem Geschichtsunterricht von der 68er-Bewegung kenne. Als ich in der achten oder neunten Klasse war, ist die Diskussion um G8 und G9 in Bayern wieder stark hochgekocht. Da gab es Organisationen, die zu einem Schulstreik aufgerufen haben, was ja in der 68er-Bewegung genauso vorgekommen ist. Ich bin trotzdem zur Schule gegangen, weil uns ein verschärfter Verweis angedroht wurde. Davon habe ich mich abschrecken lassen.

PS: Uns sind damals auch Schulstrafen angedroht worden. Aber wir hatten Glück, dass wir uns einig waren und die komplette Klasse gefehlt hat.

HF: Ich glaube, das ist der Unterschied. Wenn alle es zusammen machen, dann entsteht eine Gruppendynamik. Bei uns gab es das nicht.

PS: Was Sie angesprochen haben, ob es die Flüchtlingsfrage ist oder andere Themen, die Sie vorher genannt haben: Das kann ich voll unterschreiben. Interessant ist aber, dass zum Beispiel im Nürnberger Evangelischen Friedensforum keine jungen Leute sind. Ab sechzig aufwärts ist alles vertreten. Möglicherweise ist man in der Friedensbewegung einfach zu lange unter sich geblieben.

HF: Vielleicht ist es auch nicht bekannt genug. Amnesty International und Greenpeace sind zwei Organisationen, die in meiner Altersgruppe sehr beliebt sind. Andere große Organisationen sind nicht mehr so populär. Jeder dritte meiner Freunde ist ehrenamtlich aktiv, aber eben nicht in Organisationen. Ich bin immer wieder überrascht, dass viele in meinem Alter sich nicht für Themen engagieren, sondern für Parteien. Zum Beispiel sind sie bei den Jusos oder der Jungen Union, anstatt sich in Friedens- oder Umweltorganisationen engagieren.

PS: Als ich politisch aktiv geworden bin, hat es für mich keine Partei gegeben, in der ich mich wirklich wohl gefühlt hätte. Ich habe meine politischen Präferenzen, aber ich war nie in einer Partei. Ich respektiere, dass es in meiner Familie Parteimitglieder gibt. Aber ich brauche das nicht. Ich bin gerne Kirchenmitglied.

HF: Für mich stellt sich die Frage einfach nicht, weil ich Politik-Journalistin werden möchte. Wenn ich mit journalistisch-objektivem Anspruch über Politik schreibe, dann gehört es sich einfach nicht, in einer Partei zu sein. Das läuft all meinen Wertvorstellungen zuwider.

 

Bilder: Madame Privé