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Das Kreuz am Körper

„Lerne zu leiden, ohne zu klagen“, steht Tattoo-
Theo auf den Leib geschrieben. Der Körper des Originals aus St. Pauli ist von Kopf bis Fuß tätowiert und mit Ringen behängt. Das wandelnde Kunstwerk, älter als siebzig, hätte sich selbst nicht träumen lassen, dass die Botschaft seiner Körperkunst eine solche späte Renaissance erleben würde. Heute ist er Ehrengast auf jeder Hamburger Tattoo-
konvention und lässt sich nur noch von seinem Sohn „restaurieren“, wie er selbst berichtet.

Tattoos sind Kult! Seit ungefähr fünf Jahren hat sich ein neuer Trend der Körperkultur in der westlichen Welt verbreitet. Auch in Deutschland sind, besonders in den Großstädten, Piercing- und Tattoo-Shops wie Pilze aus dem Boden geschossen. Immer mehr Menschen – nicht nur die Anhänger einer Subkultur – lassen sich freiwillig stechen und sich Farbe unter ihre Haut jagen. Die Tätowierkunst hat ihr „Schmuddel-Image“ abgelegt und erreicht breite Schichten der Bevölkerung, vor allem die Jugendkultur.

Ich möchte dem religiösen Phänomen des Tattoo-Booms auf die Schliche kommen. Für den heutigen Umgang mit Tattoo und Piercing
heißt dies, konkret nach den Vorgängen und Erfahrungen des Tätowierens und den aktuellen Bedeutungen der Körperbilder zu fragen: Wer lässt sich wie und warum stechen? In welcher Gesellschaft, in welcher Erinnerung und mit welcher zukunftsperspektive – was also heißt, in welchem Glauben? Und vor allem: Was passiert?

Tätowierungen, Körperstechungen und Ritzungen haben sich in den verschiedensten sesshaften Kulturen der Welt zunächst weitgehend unabhängig voneinander entwickelt. Weil sie mit den Gezeichneten ins Grab gehen, gibt es wenige direkte Zeugnisse vergangener Zeiten. Herodot, Marco Polo und James Cook haben sie auf Reisen in die „neue Welt“ kennengelernt und schriftlich davon berichtet. Bis heute blieben Seefahrer die wichtigsten Überlieferer der Tattoo-Traditionen in die westliche Welt.

Tattoo funktionierte immer nach dem gleichen technischen Prinzip: mit feinen Nadeln wird die Haut durchstochen und Farbe aus verschiedenen natürlichen Substanzen unter die Haut getrieben. Dazu wurden einzelne Nadeln oder, wie in der Bokaschi-Technik, kleine Nadelkämme benutzt. 1891 erfand Samuel O´Reilly die Tattoo-Maschine, die bis heute technisch unverändert geblieben ist. Mit einer hohen Frequenz saust die kleine Nadel durch eine Führungsröhre, die der Tätowierer wie einen Kugelschreiber führt. Sie durchsticht die Haut so fein, dass sie in wenigen Stunden über der Farbe wieder zuwachsen kann.

Westliche Tattoo-Meister verstanden sich als Künstler und nicht mehr als Schamanen oder Priester. Sie übernahmen die Technik, brachten ihre Bildideen ein und variierten exotische Motive. In den zwanziger Jahren gab es bereits ganze Motivbücher, in denen Rosen

oder Herzen, Marien-Motive sowie Kruzifixe, und immer wieder Dürers betende Hände neben asiatischen Drachen und Delfinen oder filigranen Ornamenten aus der Südsee abgebildet waren. Mit dem Schwinden der Verbindlichkeit eines kultischen Zusammenhangs verloren auch die Bilder und Symbole ihre traditionelle Bedeutung und wurden mit neuen Bedeutungen aufgeladen. In der mobilen Gesellschaft hat dies immer wieder zu Irritationen geführt: Es konnte folgenreich sein, wenn ein Hamburger Tattoo-Meister ein Motiv aus der Stammeskultur der Maori an einer falschen Körperstelle platzierte, weil er dessen symbolischen Code nicht kannte, und der Seefahrer sich dann damit in Neuseeland sehen ließ. Henk Schiffmacher berichtet im Buch „1000 Tattoos“ von einem israelitischen Mädchen, das sich in Unkenntnis der symbolischen Bedeutungsschlüssel des Nationalsozialismus in Indien ein Hakenkreuz auf die Hand tätowieren ließ, und bei der Rückkehr nach Israel auf tiefes Unverständnis stieß.

Beim gegenwärtigen Tattoo-Boom fällt auf, dass das tätowierte Symbol-Motiv oft eine Gefährdung abbildet. Abschreckung ist in den Schutzzeichen unmittelbar erkennbar: Totenköpfe, Gerippe, wilde und giftige Tiere wie Löwen, Wölfe und Skorpione sind verbreitete und beliebte Motive gegen die Bedrohung: Abwehr der Aggression durch ein Abbild der Aggression. In dieser Perspektive lässt sich auch das Kruzifix als Tattoo deuten: Wer eine naturalistische Pieta auf dem verletzlichen Rücken tätowiert hat, handelt in der Überzeugung, keiner bringe es über sich, den Gekreuzigten und Auferstandenen anzugreifen.

Die Tattoos führen auch ethische Regeln ein. Sie bringen also gewissermaßen Ethik und Ästhetik, Glaube und Werte im Körperkult zusammen. Die Aufforderung „Liebt einander“ und die sogenannte „goldene Regel“ sind dort auf den Leib geschrieben, die nach Matthäus 7,12 lautet: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.“ Diese Regeln verdeutlichen, was gelten soll auf dem Territorium und in den Begegnungen des Tätowierten. Diese ganz grundlegenden ethischen Maximen lassen vermuten, dass ein solcher Umgang im Lebensraum des Tätowierten gerade nicht mehr selbstverständlich ist.

Tattooing ist eine schöpferische, kreative religiöse Praxis. Sie setzt sich in einem verbindlichen Ritual der „Verewigung“ mit den letzten Dingen auseinander. Diese religiöse Praxis sucht Kontakt mit Tod und Leben, Anfang und Ende der Zeit, Leid und Glück. Tattoo provoziert die Frage nach der Individualität des Menschen. Aber die Übergänge zwischen Glaube und Fantasy sind fließend.

Der Boom der Körperzeichen geht mit einer gesteigerten Gefährdung an Leib und Leben einher, die Bedürfnisse nach Selbstvergewisserung und Schutz, nach Religion hervorbringen. In einer rastlosen globalen Gesellschaft mit unzähligen militärischen Krisenherden, in einem zunehmend riskanten, sozialen Alltag, in einer Zeit der Selbstvergiftung durch Hyperallergien und Gentomaten, im Lande des Cyberspaces und der offenen Grenzen, in dem wir herumsurfen, bilden Schutz und Abschreckungszeichen hautnah die letzte Bastion. Die großen kulturellen Bastionen, Kirchen und politische Institutionen sind in der Jugendkultur leer und bedeutungsarm geworden. Von unten wird mit Tattoos neu zu bestimmen und zu zeigen versucht, welcher Geist im Leibestempel wohnt.

Dies war ein Rückblick auf einen Vortrag, der im Rahmen eines Studientages an der Evangelischen Akademie Hamburg gehalten wurde. Dessen Thema lautete:  „Von Plateauschuh und Tattoo. Religion und Körperkulte des Alltags“.

Text: Marcus Ansgar Friedrich
Artikelfoto: istockphoto.com