Gesellschaft
Das Leben ist kostbar und zerbrechlich
Das Leben ist kostbar und zerbrechlich

Ich hatte sie gefragt, was ihr in ihrem Leben wichtig war. Und unversehens wird das Gespräch philosophisch.

„Wissen Sie“, sagt sie, „je älter man wird, desto wichtiger werden manche Dinge. Weil sie nicht mehr selbstverständlich sind. Als ich jung war, da war es völlig normal, viele Menschen um mich herum zu haben. Meine Eltern waren da, ihre Strenge hat mich oft gestört. Mit meinen Geschwistern habe ich gespielt und gestritten, sie gehörten einfach zum Leben dazu. Auch meine Freundinnen, später die Kollegen bei der Arbeit, dann mein Mann und die Kinder. Aber jetzt bin ich fast alleine. So viele Menschen sind schon gestorben, auch mein Mann vor neun Jahren. Mein Sohn und meine Tochter wohnen sehr weit weg. Sie haben viel Arbeit und können mich nur selten besuchen. Das verstehe ich ja. Aber einsam bin ich doch.

Was für mich jetzt besonders zählt, das sind die Menschen, die mich kennen und verstehen. Wenn meine Tochter anruft, das ist einfach schön. Oder wenn ich mich mit meiner Freundin treffe. Wir sind beide ziemlich schwerhörig, aber miteinander lachen können wir bis heute. Das ist ein Segen. Jeder Mensch, mit dem ich ein Stückchen Leben teile, ist ein Segen.“

Wenige Tage zuvor: ein Telefongespräch mit einem über 90-Jährigen. „Wie das jeden Morgen knackt und knirscht in allen Gelenken,“ erzählt er. Und lacht. „Sie werden es nicht glauben, aber ich war eine echte Sportskanone. Und jetzt gehe ich am Rollator. Aber das halte ich aus. Es hilft doch nichts, immer nur zu jammern und zu jaulen. Davon werden die Knochen auch nicht jünger. Ich erinnere mich einfach daran, wie gut ich früher war. Ich habe noch ein paar Pokale und einige Bilder. Die schaue ich mir regelmäßig an. Dann freue ich mich, dass ich mal so gut laufen konnte. Die Erinnerung kann mir ja niemand nehmen. Und ich bin dankbar dafür, sehr dankbar. Das war ich auch schon früher. Ich habe meinem Herrgott immer gesagt: ‚Lass mich noch ein paar Jahre so laufen können, dann will ich später auch nicht klagen.’ Und das hat er mir geschenkt. Ist das nicht toll?“

 

Ja, das ist toll.

Ich lerne wirklich viel von alten Menschen und ihren Lebenserfahrungen. Was in einem langen Leben zählte – und was bis heute zählt. Meistens sind es Geschichten von Liebe und Leben, von Überleben und Gemeinschaft. Und oft von Dankbarkeit.

Meine Oma hatte kein leichtes Leben, ganz im Gegenteil. Ihr hat in schweren Zeiten immer der Glaube geholfen. „Das ist ein köstlich Ding, dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen, du Höchster.“ Dieser Vers aus Psalm 92 war ihr Lebensmotto. Als Kind habe ich mich darüber gewundert. Da gab es doch gar nicht so viel zu danken. Aber sie hat es verstanden, das Gute und das Schlechte aus Gottes Hand zu nehmen und ihm zu vertrauen, dass er es gut machen wird. Und dafür dankbar zu sein.

Ich möchte davon lernen. Jetzt und hier und heute überlegen: was zählt? Wofür möchte ich meine Lebenskraft und Lebenszeit einsetzen? Was ist mir wirklich wichtig? Welche Menschen bedeuten mir viel? Was möchte ich später einmal nicht bereuen?

Das Leben ist nicht selbstverständlich. Es ist ein Geschenk. Ein großartiges Geschenk Gottes, kostbar und zerbrechlich. Behutsam und dankbar will es gelebt werden, jeden Tag. Das zählt.

Text: Annette Lichtenfeld
Artikelfoto: iStockphoto.com