Themenartikel
Wo das Menschsein einen ungewohnten Platz findet.
Die Essbare Stadt stellt sich vor

Willkommen in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts. Willkommen in einer Zeit, in der Essen auf Rädern Alltag geworden ist – egal für welches Alter; in der Informationen überall und immer zugänglich sind; in der Unterricht online stattfinden kann.

Wer will, kann sich verkriechen, den gesellschaftlichen Traditionen und Treffpunkten den Rücken zukehren, ganz für sich sein. Zurzeit werden wir im Sinne des Gesundheitsschutzes sogar dazu aufgerufen.

Dass uns dabei etwas abhandenkommt, etwas verblasst, was uns zum Menschsein ermutigt, ist für viele inzwischen spürbar geworden. 

Persönliche Verbindung und Verbundenheit sind ein Gegenpol. Persönliche Verbindung und Verbundenheit entstehen seit Juni 2019 am Jakobsplatz hinter der Jakobskirche und am Egidienplatz gegenüber der Egidienkirche auf den Flächen der „Essbaren Stadt Nürnberg“. Dies auf innerstädtischen Plätzen, die davor nur von parkenden Autos oder sich ihrer Notdurft entledigenden Hunden genutzt wurden. 

Seit bald zwei Jahren treffen sich dort nun regelmäßig Menschen, die das blühende Leben in die Stadt zurückholen. Es klettern im Sommer Beerensträucher an ihrem Gerüst empor, es wachsen Kürbisse und Auberginen und es ranken Bohnen. Rosmarin und Lavendel ziehen Insekten an. Die fruchtbaren Pollen werden weitergetragen und bestäuben Sorten, die sonst weniger interessant für Insekten wären. Das Ganze passiert im Sinne der Permakultur.

 

Zurück zur Verbundenheit. Sie entsteht, weil Menschen mit Muße einander begegnen – über Alter, Nationalität und Freundeskreise hinweg. Weil gemeinsam Wege gefunden werden, wie sich alle einbringen können – und das können sie. Und weil aufeinander geachtet wird und der Mensch sich hier ganz zeigen darf. 

Wer sich fragt, ob die knappe Fläche in der Innenstadt denn wirklich nun auch noch als Acker fungieren muss, dem sei gesagt: ja, sie muss. 

Sie muss, denn sie ist ein Vorbild. Und was nützt uns ein Vorbild an Orten, die keiner kennt.

Was die „Essbare Stadt“ vorbildhaft macht – nebst der geschaffenen Verbundenheit – ist schon zu sehen, wenn Sie sich einmal eingehend das Schild ansehen, das auf beiden Flächen Menschen willkommen heißt. Jede und jeder darf so viel ernten, wie er oder sie braucht. Es geht hier also nicht darum, diejenigen zu belohnen, die besonders fleißig mithelfen. Nein, diese Gärten sind für alle! Sie dienen dem Gemeinwohl, also dem Wohlbefinden aller Menschen. Und dem Wohlbefinden allen Lebens in unserer Umwelt. Denn wenn wir uns dieser Einsicht öffnen, merken wir, wie sehr unser menschliches Wohlbefinden von der Funktionalität unserer Umwelt abhängig ist.

 

Gemeinwohl – davon zu sprechen, haben wir fast schon verlernt. Zu wichtig ist der Privatbesitz geworden. Und was nicht privat ist, ist öffentlich. Darum brauchen wir uns doch wirklich nicht zu kümmern, wozu gibt es denn schließlich Steuergelder!? 

Gemeinwohl zu leben, haben wir wohl erst recht verlernt. Angefangen von der Serviette, die auf den Boden fällt und mit den Fuß achtlos beiseitegeschoben wird. Weiter zum Umgang mit Luft und Wasser und mit unserem Klima, die wohl wichtigsten Gemeingüter, die wir zum Leben brauchen. Wer sich bewusst ist, welche Auswirkung unsere Einstellung als Konsumierende auf endliche Gemeingüter hat, die dem Gemeinwohl dienen sollten, kann sich entscheiden, dagegen anzukämpfen. Das muss nicht umfassen, dass man in Schulen Erkenntnisse weitergibt. Nein, die Verbreitung des Gemeinwohlgedankens fängt dort an, wo wir aufmerksam hinhören, wenn er verletzt wird, wo wir nachfragen, warum er verletzt wird, und wo wir vormachen, wie wertschätzend im Sinne des Gemeinwohls gehandelt werden kann.

Im Rahmen der Essbaren Stadt kann öffentlicher Raum wieder zu einer aktivierenden Umgebung werden. Es entstehen Orte, an denen Gemeinwohl wächst und wo Selbstwirksamkeit erfahren wird. Sie sind Lernflächen für uns als Individuen und als Gesellschaft.

Hier können wir wieder deutlich spüren, dass wir nicht Spielball privater Werbung sind, die in uns zahlreiche Verlangen auslöst. Wer Selbstwirksamkeit in seinem Menschsein erfährt, wird dagegen ein Stück weit immun – die Essbare Stadt ist dafür keine Voraussetzung, sondern ein niederschwelliges Angebot.

Was die innerstädtischen Flächen der Essbaren Stadt noch zum Vorbild macht, ist die Möglichkeit, besser zu verstehen, wie wir als Menschen mit unserer Umwelt verbunden sind. Es eröffnet uns die Möglichkeit, die oben genannten Gemeingüter auf anderem Weg nahezukommen, als durch das Trinkwasser aus dem Wasserhahn. Wussten Sie zum Beispiel, dass in einem Kubikzentimeter fruchtbaren Bodens eine Milliarde Lebewesen wimmeln? Diese Milliarde braucht er, um fruchtbar zu bleiben, Pflanzen und Bäumen Nahrung zu spenden, Wasser zu speichern. Und wussten Sie auch, dass es Kinder gibt, die Tomaten an der Pflanze nicht erkennen und denken, diese seien giftig? Wussten Sie, dass von den mit Hilfe unserer Gemeingüter produzierten Lebensmitteln fast 40 Prozent in privaten Haushalten weggeworfen werden? 

All das bewegt uns von Bluepingu e.V., die Essbare Stadt in der Nürnberger Innenstadt zu pflegen. Es bewegt uns, andere anzuregen, es uns gleichzutun. Es bewegt den Bund Naturschutz, es bewegt Bluepingu-Projekte wie Die Wiese und den Stadtgarten, es bewegt den Wolfsgarten, Kollekt Jardín, den Nordgarten im Z-Bau, Vischers Hochbeete und viele andere mehr, Vorbilder zu schaffen. 

Wer mehr über uns erfahren will, wer mit- oder nachmachen will, schaut am besten einfach mal im Sommer vorbei. Wir freuen uns über alle Menschen, die ihr Menschsein im Austausch mit uns beim gemeinsamen Gärtnern spüren wollen.

Organisationsteam: Tina Löhr und Julia Schrader, Bluepingu e.V.
Kontakt: kontakt@essbare-stadt-nuernberg.de
essbare-stadt-nuernberg.de 

Auf der Homepage finden sich viele weitere Infos zur „Essbaren Stadt Nürnberg“

Text: Julia Schrader
Artikelfotos: Sebastian Lock

 

 

INFO

Der Ernährungsrat für Nürnberg und Umgebung ist eine Gruppe engagierter Menschen, die sich für ein sozial gerechtes und ökologisches Ernährungssystem einsetzt und den Einfluss von Bürger*innen auf die städtische Lebensmittelversorgung stärken möchte.

Im Frühjahr 2018 haben sie sich zum ersten Mal getroffen und arbeiten seither am Aufbau eines Ernährungsrates für Nürnberg und Umgebung: Sie vernetzen sich mit anderen engagierten Menschen und Initiativen in der Region, arbeiten in verschiedenen Gruppen zusammen und starten erste Projekte (z. B. Essbare Stadt Nürnberg), um ihren Zielen näherzukommen. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen, den zukunftsfähigen Wandel des Ernährungssystems mitzugestalten!