Gesellschaft
von Rose Riecke-Niklewski
„Du könntest ja ein Sandbild bauen“

Bei mir in der Praxis steht ein Sandkasten. Dieser Sandkasten spielt eine wesentliche Rolle – nicht nur für „meine“ Kinder, also die Kinder, die meist von ihren Eltern gebracht werden, weil diese sich Sorgen machen: Mein Kind ist nicht so, wie Kinder normalerweise sind, also – so denken die Eltern –: immer fröhlich, lernbegierig, kontaktfreudig, freundlich, nett, gesund und munter und vor allem „funktionstüchtig“. Der Sandkasten kommt auch zum Einsatz, wenn Jugendliche auf meinem Sofa sitzen und nicht weiter wissen, weil sie Angst haben oder immer lustlos, traurig, hoffnungslos sind, vielleicht halb verhungert oder von Kopf, Bauch- und Rückenschmerzen geplagt, oft voller Wut und Selbsthass und innerem Druck, den sie nur aushalten, wenn sie sich selbst verletzen. Das hilft – so erzählen sie. Es hilft auch, wenn sie sich wie hinter einer Glaswand erleben – getrennt von der Welt um sie herum aber auch von ihren eigenen Gefühlen und sich selbst gar nicht mehr spüren. Der Schmerz, den sie sich durch den Schnitt zufügen, kann dann jedenfalls für kurze Zeit das „Trennglas“ zerschlagen. Die Erfahrung haben sie gemacht und brauchen sie immer wieder. Und dann der Sandkasten! „Bau ein Bild, ein Sandbild“ heißt die Aufforderung in der Sandspieltherapie, die vor über einem halben Jahrhundert erfunden wurde. „Beschreiben kannst du es danach.“ „Hä?“, reagiert der Jugendliche; und der Erwachsene, für den die Sandspieltherapie auch „erfunden“ wurde, schaut erst einmal entgeistert. Kinder verstehen das besser! Aber jeder, der einmal die Hände in den Sandkasten gelegt und dabei die vielen Figuren, die für ein Sandbild zur Verfügung stehen, im Blick hat, spürt irgendwie, dass das Bauen ein Chance birgt: Man kann sich mitteilen, man kann, was man noch gar nicht so richtig in Worte zu fassen weiß oder eigentlich auch selbst noch gar nicht begreift, darstellen – und damit ist es schon näher, kann zumindest betrachtet werden und man kann dann vielleicht auch darüber sprechen. Das Bauen eines Bildes mit Sand und Figuren im Sandkasten bietet jedem die Möglichkeit, ohne Worte darzustellen, was „gerade los ist“ – und wenn der Patient und ich Glück haben, verstehe ich das auch ungefähr und kann mir ein besseres Bild vom Patienten und seiner Problematik machen als nur durch Nachfragen. Denn kann man wirklich immer so genau „wissen“, wie es in einem aussieht? Karina ist 15. Sie ist depressiv, war ein paar Wochen in der Klinik, soll jetzt ambulant „weiter-
machen“ mit Therapie. Ihre Mutter bringt sie.
Karina spricht kaum. „Sie ist so schüchtern“, hatte mich die Mutter gewarnt. Und: „Sie will nicht.“ Ich glaube, Karina hat keine Hoffnung, dass die Therapie etwas bringt, dass überhaupt irgendetwas bringt. Es ist eh alles egal, sinnlos, lohnt sich nicht. Deswegen war sie ja in die Klinik gekommen, weil sie aus dieser Stimmung heraus einen Abschiedsbrief geschrieben und die Wohnung Richtung S-Bahn-Gleis verlassen hatte. Zum Glück hatte ihre Mutter den Brief rechtzeitig gefunden! Und da habe ich vorgeschlagen: „Du könntest ja ein Sandbild bauen“ – „Hä?“… Dann sitzt Karina vor dem Sandkasten. Erst liegen die Hände ganz still in dem trockenen Sand, dann versuchen die Finger durch leichte Bewegung ein Gespür für das Material – ihr Baumaterial! – zu bekommen. Jetzt wandert ihr Blick zu dem Regal, in dem hunderte Figuren (Steine, Pflanzen, Tiere, Fahrzeuge, Häuser, Schlösser, Kirchen und vor allem Menschen: gute und böse, Verbrecher und Heilige…) aufgebaut sind. So ganz in sich, in ihre hoffnungslose Innenwelt, gekehrt scheint sie nicht mehr. Ich bin gespannt. Und es geschieht: Sie nimmt eine Mädchenfigur und stellt sie in den Sand, daneben einen Stein. „Ich bin fertig“. So sieht’s also aus: „wüst und leer“.
Kurze Unterbrechung: Woran baue ich selbst in diesem Moment? Ich habe hier auch versucht aufzubauen und zwar einen ersten Kontakt zu Karina. Was meine weitere Aufbautätigkeit betrifft war ich aber doch ein bisschen skeptisch. Kann ich eine Beziehung aufbauen? Die ist nämlich das A und O einer jeder guten Psychotherapie. Ohne vertrauensvolle und tragfähige Beziehung zwischen Therapeut und Patient, geht gar nichts.   In der nächsten Stunde frage ich: „Möchtest du noch ein Sandbild bauen?“ Karina ist sichtlich erleichtert, dass ich sie nicht „ausfrage“. Und sie baut. Dieses Mal nimmt sie schon ein paar Pflanzen – Sträucher und Hecken –, die sie in einer Ecke um dieselbe Mädchenfigur herum aufbaut. Zum Glück ist es keine Steinmauer, denke ich. Soll ich das aussprechen? Dora Kalff beschreibt die therapeutische Wirkung des Sandspiels folgender-
maßen: Es wirke auch ohne dass es vom Therapeuten kommentiert, interpretiert, gedeutet wird. Und so ist es auch. Ich sitze tatsächlich nur da, schaue zu, begleite, fühle mich fast wie eine Mutter, die ihrem Kind beim Spielen zuschaut und sich einfach an seinem Dasein freut, ohne aktiv eingreifen zu wollen oder zu müssen. Wenn sich so eine Atmosphäre herstellt, sind Interpretationen oder gar Deutungen nur störend. Das weiß ich. Es geht um das Miteinander. Ich begleite diesen Sandaufbau also ohne Kommentare und versuche zu verstehen. So baut sich unsere Beziehung auf – jede Stunde ein bisschen mehr: (Vertrauens)stein auf (Vertrauens)stein. Inzwischen hat auch der Gesprächsaufbau stattgefunden. Karina erzählt viel: Trauriges, Lustiges, Ärgerliches und „Banales“ – halt alles, was eine 15-Jährige beschäftigt, die wieder am Leben teilnimmt. Ein Grundstein ist gelegt.

 

Fotos: iStockphoto, privat

Über die Autorin

Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski ist Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin und Sachbuchautorin für Eltern- und Patientenratgeber.