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Tagebuchnotizen aus den Krisenwochen
Durchhalten und auferstehen

Schnell hieß es: Wir sollen oder müssen gar die Krise auch als Chance begreifen. Nämlich zu einem Check-up, wie es neudeutsch heißt: Was hält und was zählt wirklich im Leben?

Die „großen“ Antworten dürften uns allen nur allzu vertraut sein: Freundschaft, Liebe, Vertrauen und natürlich Gottvertrauen, Zusammenhalt, Gelassenheit und Zuversicht. Nehme ich das wirklich ernst? Und gibt es vielleicht noch andere Antworten auf die Frage, worauf es wirklich ankommt?

„Wir bekommen das gebacken“, macht eine Bäckerei mit pfiffiger Werbung Mut. „Halten wir zusammen,“ fordern uns Politiker auf. Eiserne Disziplin sei nötig, wird uns Stunde um Stunde eingeschärft. Und die Medien lassen sich eilfertig als Sprachrohr einspannen – schließlich geht es um Sieg oder Niederlage. Da heißt es wachsam sein, was da eigentlich gespielt wird. In den Nachbarländern, so höre ich, bemühen die Verantwortlichen ganz ungeniert die Kriegsrhetorik. Das stimmt mich richtig dankbar, dass in Deutschland nicht so dick aufgetragen wird.

Es ist eine alte Weisheit, dass es nicht nur darauf ankommt, was verkündet wird, sondern beinahe mehr noch wie. 

So einen ruhigen Karfreitag haben auch die Älteren wohl noch nie erlebt – und weil dieser Tag ja ohnehin zu den „stillsten“ im Jahr gehört, will das etwas heißen. Aber empfinde ich das wirklich und noch als wohltuend? Oder doch eher als verstörend? Den „Klassiker“, die Matthäus-Passion, kann ich nur zuhause genießen – aber um Genuss geht es gerade nicht. Noch die schönste Radioübertragung oder CD-Aufnahme kann doch das gemeinsame Lauschen und Sich-ergreifen-lassen, die tiefe Andacht beim „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir“ nicht ersetzen.

Ostern: Dieses Fest ohne die Nacht oder den frühen Morgen in der Kirche zu feiern, fühlt sich mehr als merkwürdig an: „Auferstehung“ gibt es diesmal nur im Fernsehen und im Internet, also nur medial, online, virtuell. Oder hilft das am Ende vielleicht, das Geheimnis ein klitzekleines bisschen besser zu verstehen? War die Auferstehung Jesu womöglich eben virtuell – und damit so „real“ wie Virtuelles auch für uns eine Realität eigener Art darstellt?

Dennoch: So liebevoll sie vorbereitet waren – die Übertragung von Gottesdiensten vor gähnend leeren Bänken lässt mich ratlos und unberührt. Vor meinem Bildschirm mitzusingen, will mir, ehrlich gestanden, nicht recht gelingen. Nur wenn ich eine lebendige Gemeinde beteiligt wahrnehmen kann, also eine Gemeinschaft im Reden und Hören und Feiern spürbar wird, kann ich mich da hineinfinden. Nein, ich kann und will ich mich nicht daran gewöhnen, „nur“ Geistliche und Musiker zu sehen, die mir – pardon – als Zeremonienmeister etwas ins Haus liefern als genügten sich die religiösen Vollzüge selbst. Gleichzeitig wird eine alte Schwäche noch offenkundiger: Wo wenig Interaktion möglich ist, wird der Sprachanteil noch größer – Wortlastigkeit gilt ja ohnehin als Schwäche des Protestantismus, hier tritt sie noch markanter zutage. Was also zählt? „Solum verbum“, haben wir von Luther gelernt, das Wort allein. Aber die lebendige Gemeinschaft möchte ich nicht missen.

Viel weniger Schadstoffe in der Luft, klares Wasser selbst in den Kanälen von Venedig, die Lärmbelastung im freien Fall: Wenn das Herunterfahren nicht nur des Flugbetriebs fast in aller Welt, sondern so vieler Aktivitäten ein Gutes hat, dann das: Für die Umwelt ist SARS-CoV-2 ein unbestreitbarer Gewinn, ein sattes Plus, ein Mehr-Wert. Aber was heißt hier „für die Umwelt“? Für uns alle, unseren Planeten, unsere Lebensgrundlage und vor allem die unserer Kinder und Nachfahren. Aber ich fürchte: Die Verschnaufpause bleibt eine allzu kurze Episode. Dabei sollten und müssten wir dringend etwas davon hinüber retten in eine neue Zeit – nach Corona.

Sonntag nach Ostern: Eigentlich wäre ich heute zu einer Konfirmation eingeladen. Ist natürlich gestrichen, besser gesagt: verschoben. Aber ich komme ins Grübeln über unsere Kirche: War die Streichung sämtlicher Gottesdienste, dem Staat angeblich freiwillig und ohne Federlesens zugebilligt, wirklich so alternativlos? Ja, zum Schutz der Gesundheit der Besucher, vor allem der Älteren, war das wohl tatsächlich unausweichlich. Aber ich vermisse die herzerweichende Klage darüber – bedeutete die Absage aller Gottesdienste doch nicht weniger als das Einfrieren der Gemeinschaft. Und ist das Sich-Fügen-ins-Notwendige und das Einhalten gesetzlicher, von Fachleuten begründeter Vorgaben wirklich schon, wie es viele Theologen mit warm werbendem Unterton deuteten, ein Ausdruck von „Nächstenliebe“? Ich ziehe den Hut vor allen in unseren Gemeinden, die höchst engagiert versuchten und versuchen, das Beste aus der Situation zu machen. Aber wenn Christen weltlichem Recht und guter staatlicher Ordnung folgen, muss das nicht mit einem „geistlichen Sahnehäubchen“ garniert werden.

Die Sommerzeit, jetzt gilt sie wieder – und ich freue mich darüber. Ja, ich weiß: Viele hassen sie, oder eigentlich, genauer gesagt, vor allem die Umstellung. Und ja, die Frühaufsteher müssen länger auf den Tagesanbruch warten. Aber für alle, die nach ihrem Arbeitsalltag noch die Frühjahrs- und Sommerabende nutzen und genießen wollen, ist es doch schön, wenn es länger hell ist. Ich empfinde das als Geschenk.

Aber jetzt? Ich spüre, wie schwer es mir fällt, meinen Frieden damit zu machen, dass und was mir und uns alles „geraubt“ wurde –
März, April, Mai: Worauf hatte ich mich in diesen Monaten nicht gefreut, was hatte ich mir nicht vorgenommen. Wird das nicht ein verlorenes Jahr? Die Ruhe, die Zwangsstillstellung – vielleicht werden die für mich erst im Nachhinein richtig wertvoll, wenn womöglich eine atemlose, irrwitzige Aufholjagd einsetzt mit dem Versuch, alle Verluste wettzumachen. Und dann sehe ich jene, die um ihre nackte Existenz fürchten mussten und noch immer fürchten, den Wirt um die Ecke, die Musikerin, den Physiotherapeuten. Was für sie zählt, ist vor allem eines: endlich wieder Boden unter die Füße zu bekommen. 

Text: Wolfgang Heilig-Achneck
Artikelfoto: iStockphoto.com