Musik
ION
Ein klingender Lichtblick

Das Programm schien unter Dach und Fach und verhieß erneut ungewöhnliche Musikerlebnisse, der Vorverkauf war gut angelaufen – dann ließ Corona die schönsten Hoffnungen platzen. Mit der Wucht eines Tsunamis fegte die Pandemie im gesellschaftlichen und kulturellen Leben alles dahin, was für Frühjahr und Sommer geplant gewesen ist. Auch die Internationale Orgelwoche Nürnberg – Musica Sacra (ION) blieb nicht verschont.  Abgesagt aber wurde sie nicht. Im Gegenteil: Sie soll leben und sich so kreativ und womöglich noch innovativer präsentieren als in ihrer bisherigen 69-jährigen Geschichte. Ein Hoffnungsprojekt par excellence.

Freilich: An herkömmliche Konzertabende oder auch mittägliche Orgelstunden vor andächtig lauschendem Publikum in dicht gefüllten Reihen ist nicht zu denken, ebenso wenig an Vespern im vertrauten Stil. Dafür wird sich die ION, um eine strapazierte Modeformel zu bemühen, neu erfinden. Dabei geht es, wie seit Wochen bei vielen kulturellen Aktivitäten und auch Gottesdiensten, nicht allein um eine Verlagerung ins Internet, also eine Umstellung vom Live-Erlebnis zum Live-Stream. „Wir wollen nicht einfach fertige Programme nur abfilmen und medial verbreiten“, betont der künstlerische Leiter Moritz Puschke.

Vielmehr setzt das Festivalteam auf eine vollständig neue Konzeption, die auch unter den veränderten Bedingungen einmalige, im besten Fall unvergessliche Abende verheißt. Damit könnte die ION zum ersten Musikfestival werden, das in der Corona-Krise nicht einfach gestrichen oder verschoben wird, sondern mit neuem Format zu behaupten versucht.

Wenn nicht – was Gott verhüten möge – ein fataler Rückschlag zu erneut rigidesten Restriktionen zwingt, soll die 69. Ausgabe der ION genau neun Tage lang, im vorgesehenen Zeitraum von Samstag, 27. Juni, bis Sonntag, 5. Juli, das Publikum ganz neu und auch ganz anders in ihren Bann ziehen. „Wir bieten jeden Abend ab 21 Uhr ein außergewöhnliches Programm, jeweils eine Stunde mit erlesener Musik, aber auch gedanklichen Impulsen und Gesprächen und durchdachter Lichtregie“, verspricht Moritz Puschke. Dabei könnte das Motto „Ins Offene. Über Mut“, unter dem das Festival ohnehin geplant gewesen ist, kaum passender sein, nun wird es noch um die Verheißung „Nah bei Dir“ ergänzt. Und jeder Abend wird jeweils einem besonderen Thema gewidmet.

„Freiheit und Begrenzung“ beleuchten zum Auftakt Musiker, Theologen und Philosophen.  Mit Werken unter anderem von Claudio Monteverdi umspielt das Ensemble Continuum am Sonntag, 28. Juni, Aspekte von „Krankheit, Heilung und Schutz“. Der beliebte Orgelwettstreit, diesmal mit Monica Melcova und Martin Sturm, geht am 29. Juni mit Improvisationen buchstäblich „Ins Offene“. Weitere Perspektiven beschreiben „Aufstehen, Auferstehen, Entstehen“ sowie „Trauer und Trost“. Auf mittelalterliche Gesänge treffen Songs der Gegenwart am 1. Juli, einem Abend zu „Past forward“, dem Slogan der Nürnberger Bewerbung um den Titel als Kulturhauptstadt. Auch eine Talkrunde zur Zukunft der Musica Sacra darf nicht fehlen, zumal die ION überregional als Werkstatt und Plattform auch für die Weiterentwicklung von Kirchenmusik wahrgenommen wird.

Zwei Glanzpunkte setzen zum Ausklang die großartige Capella de la Torre am 4.Juli mit „Trotzdem – Trotz allem – Tanz“. Freude pur will am 5. Juli das Vokalensemble „Slixs“ mit betörend-mitreißenden Werken von Bach bis Prince vermitteln.

„Große“ Aufführungen, vor allem mit Chor, werde es nicht nur bei der ION, sondern bis mindestens in den Herbst hinein nicht geben können, ebenso wenig natürlich eine ION-Nacht mit Aktionen im Einzelhandel, Open-Air-Kino und Nachtsingen auf dem Hauptmarkt, was Puschke natürlich bedauert. Die Chance in der Krise sieht er indes nicht zuletzt darin, die gesamte musikalische Praxis auf den Prüfstand zu stellen. Und mit dem Verlassen eingefahrener Wege auch neue Publikumsschichten und –gruppen zu erreichen.

Als Spielstätten werden, mehr denn je, vor allem St. Sebald, St. Lorenz und St. Egidien als spirituelle Räume buchstäblich in Szene gesetzt. Großer Vorteil, nicht nur „nebenbei“: Die Gotteshäuser stehen mietfrei zur Verfügung. Denn da natürlich der gesamte Kartenverkauf und damit alle Einnahmen jenseits der Zuschüsse und Sponsorenbeiträge wegfallen, muss die ION diesmal mit einem Sparetat klarkommen. Reguläre Honorare für die Künstler sind natürlich dennoch vorgesehen. Und auch das Live-Streaming-Publikum erhält hinreichend Gelegenheit, sich mit Spenden an der Finanzierung des musikalisch-geistlichen Festreigens zu beteiligen.

Text und Artikelfotos: Wolfgang Heilig-Achneck