Gesellschaft
Ein Leben ohne Häkchen
Ein Leben ohne Häkchen

Der 6. Januar. Das Jahr 2019 hatte schon sechs Tage, und von dem Vorhaben, meinem Büro wieder ein ansehnliches Äußeres zu geben, Papierstapel abzutragen, Schreiben abzulegen, Schulsachen zu ordnen und zu sortieren und den dazwischen liegenden Kleinkram wie Spitzer, Stifte, Parfüm, benutzte Kaffeetassen an ihren Ort zu tragen, ist so gut wie nichts umgesetzt.

Alles schaut mich vorwurfsvoll an.
Das soll ein Büro sein?

Das ist ein kunterbuntes großes Durcheinander oder eine To-do-Liste ohne ein einziges Häkchen. Wäre das Büro nur die einzige To-do-Liste, wäre das Problem überschaubarerer.
Aber da sind ja noch die vielen E-Mails, natürlich unbeantwortet. Da sind noch die Gottesdienste, die vorzubereiten sind, die neuen Termine, Texte, kreativen Ideen, die sich alle endlich ein Häkchen wünschen. Abgehakt, erledigt, gemacht, getan, das wünsche ich mir ja auch, aber mehr als arbeiten geht nicht. Wo ist eigentlich die Grenze fürs Arbeiten? Wo ist die Grenze fürs Produzieren, Machen und Tun? Wer bestimmt über mein Leben? Etwa diese unvollendeten To-do-Listen? Oder all die anderen, die was von mir wollen? Grundsätzlich ist das ja auch wunderbar, ich bin gefragt, mein Rat ist erwünscht, meine Meinung zählt. Grundsätzlich mache ich das ja auch sehr gerne und mit Leidenschaft. Grundsätzlich erfüllt auch mich ein Häkchen mit Freude und Stolz.

Aber heute ist der 6. Januar und morgen enden die Ferien. Der Alltag beginnt wieder und die Termine jagenmich, der Frieden schwindet.
To-do-Listen haben ihr hämisches Grinsen aufgesetzt und erheben schonungslos den Zeigefinger: „Wieder nicht geschafft!“ Geschafft bin ich aber von den aufregenden Weihnachts- und Silvestertagen. Geschafft bin ich und morgen wird das niemanden interessieren.

Wer schafft das bei Ihnen/bei Dir, den Pflichten, den Aufgaben, den Anforderungen eine Grenze zu setzen? Ich erinnere mich, dass mir in den letzten Wochen viele erzählt haben, es sei zu viel zu tun. Kaum einer hätte angefangen, über Arbeitsberge zu jammern, stimmen andere mit ein. Bei mir sind es Papierberge, bei den anderen ist es nach ihren Aussagen der Himalaya höchstpersönlich, der in ihr Arbeitszimmer eingezogen ist. So groß sind die Aufgaben, die noch erledigt werden müssen. Sollte ich öfter „Nein“ sagen? Liegt es allein an mir? Das macht mich schon wieder zum Opfer und zum Versager. Nein, es liegt nicht allein an mir, wenn die Papierberge wachsen, nicht alle Punkte auf der Liste ein Häkchen bekommen und mein Widerwille gegen jede weitere Liste wächst.
Definieren wir uns etwa alle über abgearbeitete To-do-Listen? Glauben wir, dass wir dadurch besser sind als die, die nicht alles schaffen? Geben uns Häkchen wirklich so viele Endorphine mit, dass wir über Belastungsmauern springen können?

Hat da der Himmel nicht was Besseres für uns? Ein Lächeln, Gnade, ein Steigeisen z. B. oder eine Wanderkarte, die den Weg an den Bergen vorbei weist. „Wunderbar habe ich dich gemacht, wunderbar sind meine Werke!“ Ich liebe diese Zusage, weil darin kein einziges Häkchen vorkommt, weil nicht ich es bin, die sich produzieren muss, sondern ein anderer mich gemacht hat. Wunderbar.

Eine Grenze setzen

Heute morgen bin ich nicht um sechs Uhr aufgestanden, um weiterzumachen. Bis zehn Uhr lag ich im Bett (Rekord, eigentlich ist es mir da nämlich am Morgen zu langweilig). Dann habe ich eine neue App entdeckt: XRCS. Sie bietet spirituelle Unterbrechungen im Alltag. So eine App gab es bisher auf dem religiösen Sektor noch nicht. Ich will es ausprobieren.
Der Arbeit eine Grenze setzen, indem ich mich zumindest zweimal am Tag unterbrechen lasse. Die erste Unterbrechung kam dann auch schon 20 Minuten später mit der Frage:

Was treibt Dich gerade an?

 

Text: Simone Hahn
Bild: iStockphoto