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Evangelisch fasten
Evangelisch fasten

Fasten ist in. Seit Jahrzehnten. In den christlichen Kirchen bedeutet Fasten, freiwillig für eine gewisse Zeit auf etwas zu verzichten. Meistens geht es dabei um den Verzicht auf Essen und Trinken, oft Fleisch, Süßigkeiten oder Alkohol. Fastenaktionen der Kirchen wie „7 Wochen ohne“ oder „Andere Zeiten“ motivieren viele Menschen, das Fasten als gemeinschaftliche Aktion zu erleben. Oft sind das ungewöhnliche Ideen: Sieben Wochen ohne Plastik oder ohne Pessimismus oder jeden Tag einem Menschen etwas schenken.

In der Bibel fasten Menschen zum einen als Ausdruck von Trauer und Sühne, zum anderen zur Vorbereitung auf eine Begegnung mit Gott. Beides hat sich in der Tradition der Kirche fortgesetzt. Im Mittelalter wurde das Fasten oft zu einer verordneten Bußhandlung. Dagegen wandte sich Martin Luther, und lange Zeit war das Fasten in der evangelischen Kirche daher unüblich. Heute entdecken evangelische Christinnen und Christen das Fasten neu: als eine Möglichkeit, eine spirituelle Zeit zu gestalten, um Gott neu und anders zu begegnen.

Es gibt viele verschiedene Motivationen für das Fasten. Der eine möchte sich von lästigen Gewohnheiten trennen, die andere eine neue Glaubenspraxis einüben, wieder andere wollen schlicht ein paar Kilos loswerden. Manche wünschen sich einfach, bewusster durchs Leben zu gehen. 

Der Wunsch zu fasten ist keine Frage des Alters. Ganz junge Menschen, aber auch viele Ältere entdecken das Fasten immer öfter für sich.

Vor Jahren habe ich vor der Passionszeit im Reli-Unterricht in meiner 5. Klasse das Thema Fasten besprochen. Einige Kinder waren Feuer und Flamme und wollten unbedingt selbst ausprobieren, ob sie es schaffen, sieben Wochen auf Gummibärchen, Nutella, Handy oder Limo zu verzichten. Gegenseitig haben sie sich angestachelt und auch ihre Eltern und Geschwister mit einbezogen. Es war ein munterer Wettstreit, wer am längsten durchhält. Einige haben nach wenigen Tagen aufgegeben und ihren Schokoriegel in der Pause wieder mit Genuss verzehrt. Andere kamen nach den Osterferien mit stolzgeschwellter Brust zu mir und verkündeten: „Ich hab’s geschafft! Und meine Mama auch – zum ersten Mal in ihrem Leben!“

Im Versuch zu fasten ist eine Neugier, ein Bedürfnis, eine Sehnsucht nach dem „mehr“: Mein festgefahrener Alltag ist doch nicht alles – schlummern in mir nicht noch andere Möglichkeiten?

Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu. Das bekannte Zitat des Schriftstellers Ödön von Horváth bringt die Fastenmotivation vieler Menschen auf den Punkt. Aus dem Fasten wächst eine neue Kraft. Wer etwas für sich Ungewöhnliches schafft, entdeckt sich neu. Denn auch geringe Verhaltensänderungen während der Fastenzeit können Großes bewirken. Fasten macht sensibler und achtsamer für andere Menschen und für das eigene Erleben.

Mitleidige Blicke von anderen gibt es durchaus in der Fastenzeit. Wenn die Freunde ihr Glas Rotwein zum Essen genießen und mit Seitenblick zu mir sagen: „Du darfst ja nicht!“ Doch, ich darf alles –  ich will nur nicht. 

Paulus schreibt: Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient dem Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangennehmen.

Deshalb ist die Fastenzeit ein „Augenöffner“: Ich darf ehrlich zu mir sein und mir eingestehen, was mich im Alltag gefangen nimmt, ohne dass ich es mir eingestehe. Der allabendliche Absacker oder das Versumpfen in den sozialen Medien? Der Kaufrausch im Internet oder das Ablästern über Arbeitskollegen? Was nimmt uns gefangen? 

Ich möchte in der Fastenzeit die großen Fragen in meinen Kopf und Alltag holen: Wie will ich eigentlich leben? Was macht mich wirklich glücklich? Wozu bin ich auf der Welt?

Längst nicht immer finde ich Antworten darauf. Manches Jahr versackt der gute Vorsatz zu fasten schon nach wenigen Tagen oder Wochen. Ich schaffe es einfach nicht.

Manchmal aber wird der Kopf klar und das Herz weit. Dann merke ich: Es hat sich gelohnt.

Text: Annette Lichtenfeld
Artikelfoto: iStockphoto.com