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Evangelische Gefühle
Evangelische Gefühle

Und auch, wenn eingangs Erwähnte wirklich so richtig gut sind: Das war natürlich ein ironischer Einstieg, denn seit der Reformation herrscht bei uns der Kopf und nicht das Gefühl. Das hat seine Vorteile. Aber es hat eben auch dazu geführt, dass wir – oder sogar der evangelisch geprägte Teil Europas – beim Umgang mit Gefühlen oft überfordert wirken.

Darf ein Gottesdienst Gefühle ansprechen? Lieber nicht. Das ist zu gefährlich. Gottes Liebe: klar, von der darf gepredigt werden. Aber die empfange ich sicherheitshalber mit dem Kopf. Und sollte es mir allzu warm ums Herz werden, kann der pflichtbewusste evangelische Prediger ganz schnell auf die vollkommene Verderbtheit des Menschen verweisen, und dass wir dementsprechend den Regungen unserer Gefühle besser misstrauen.

So ein paar Nischen haben wir uns dann doch gestattet. Der Pietismus spricht eine grundsätzlich emotionalere Sprache, aber Gefühle bleiben natürlich brav auf ihren Spielwiesen theologisch eingezäunt. Kontrollierte Emotion bei bestimmten Themen: Gottes Liebe. Natur (aber selbstverständlich vorsichtig, nicht, dass es schwärmerisch wird). Alltagssituationen, in denen Gottes Vorsehung erkannt werden kann. Das Gefühl von Abhängigkeit schlechthin. Mensch, was willst Du mehr?

Musik? Na gut, das geht natürlich auch. Hier ist Gefühl erlaubt. Es muss halt nur Johann Sebastian Bach sein, aber sonst … Eine kleine Träne beim Schlusschoral der Kantate: Das ist durchaus noch im Rahmen.

Auch 2019 noch fragte die Einladung zum Gottesdienst mit dem Thema Emotionen: „… wer kennt das nicht, dass Emotionen mich überrollen und ich nicht mehr Herr/Frau über sie bin?“ Gefühle sind viel zu unkontrollierbar! Es könnte doch sein, dass es uns Christen dann zu schnell nur noch darum geht, das eigene Wohlgefühl zu stimulieren … Autsch, das darf nicht sein. Gefühligkeit anstelle von klugem Denken und Handeln – um Gottes willen! Zum Glück bewahrt so mancher Online-Artikel uns vor dem Schlimmsten, wenn uns da erklärt wird, dass es beim Glauben auch ohne

Gefühle ginge …

Übertreibe ich? Ich habe alle kursiven Halbsätze dieses Absatzes ohne Mühe genau so im Internet gefunden.

Natürlich gibt es 2020 ganz viel Gutes und Weises in Sachen Emotion bei uns. Schlaue Interviews, erstklassige Tagungen, zauberhafte Gottesdienste. Aber witzig bleibt dennoch, wie sehr uns unsere Geschichte geprägt hat – und dass ebenso das in der evangelisch geprägten Welt vorherrschende Klischee, dass das Kind mit dem Bade ausgeschüttet würde, immer noch fröhlich Bestätigung findet.

Wie gut, dass Humor auch eine vom Glauben geförderte Grundbefindlichkeit des Menschen ist … 

Text: Jan Martin Depner
Artikelfoto: iStockphoto.com