Titelthema
Fang doch mal an
Fang doch mal an

Wer kennt das nicht? Nach einer gescheiterten Beziehung, nach einem Umzug, einem Berufswechsel oder einem abgeschlossenen Projekt: Das Neue liegt wie ein leeres Blatt vor mir, ich brauche neue Energie, neue Ideen, neue Routinen. Und während Hermann Hesse jauchzt, dass jedem Anfang ein Zauber inne- wohnt, der uns beschützt und zu leben hilft, hat ein Neuanfang auch das Potenzial, uns in die Verzweiflung, die Angst und Mutlosigkeit zu führen. Woran soll ich anknüpfen? Hier kennt mich keiner. Habe ich die Kraft, mich wieder neu zu erfinden? Im Zentrum vieler russischer Osterikonen steht Christus triumphierend auf zerborstenen Türen. Symbolisch soll gezeigt werden: Jetzt gibt es kein Halten mehr. Die Herrschaft der Hölle, des Todes, die Christus eben noch gefangen hielt, ist vorbei. Jetzt beginnt etwas Neues, das Alte hat keine Macht mehr.

Ostern steht für den Neuanfang. Hier allerdings war das Alte, das Christus überwunden hat, eindeutig negativ. Hölle und Tod, wer sollte sich nicht freuen, dass die überwunden sind? Wer könnte nicht in das Osterlachen einstimmen und Halleluja singen? Mit unseren Neuanfängen dagegen ist es nicht so eindeutig: Das Alte war so doch angenehm vertraut. Hier fühlte ich mich unter Umständen sicher und hatte mich gut arrangiert. Wer sagt denn, dass neu immer gut sein muss?

Also: zurück zum Anfang. Es ist eine Grundlage christlichen Weltverständnisses, dass Ostern alles auf den Kopf gestellt hat. Dass die Türen der Hölle zerbrochen sind, bedeutet nicht nur, dass Jesus selbst aus dem Tod erstanden ist, sondern dass der Tod für uns alle überwunden ist. Alles, was als felsenfest und sicher galt, ist ins Wanken geraten. Ostern ist wie so ein freches, fröhliches, rebellisches Tierchen am Ohr, das uns immer wieder einflüstert: „Oh nein. So ist das nicht mehr. So war das vielleicht früher, aber seit Christus die Höllentüren zerbrochen hat, darfst Du ruhig auch mal das Gegenteil denken. All das, was du vielleicht einmal gelernt hast, was du dir zu glauben angewöhnt hast, was sich in deiner Gesellschaft als sinnvoll entwickelt hat – das darfst du gerne hinterfragen.“

Vollmundig gesagt: Nach Ostern gibt es nur noch ein Kriterium, und das ist Gottes unermesslich große Liebe zu jedem einzelnen seiner Geschöpfe. Und im Licht dieser Liebe verschwinden alle Gesetzmäßigkeiten, Zwänge, Hierarchien, Denkmuster, religiösen Pflichten und tyrannischen Mächte. Gottes Sieg über den Tod und die Tatsache, dass die Ewigkeit damit schon begonnen hat, bietet auf alles, wirklich alles, einen neuen Blickwinkel. Aber ich kann verstehen, dass diese letzten drei Sätze viel zu gewaltig sind. Vergessen Sie sie ruhig wieder. Schließlich ist es eine Lebensaufgabe von jedem Christen, dieses österliche Auf—den—Kopf—Stellen der Welt immer wieder neu verstehen zu versuchen und in allen möglichen Situationen und von neuen Blickwinkeln aus zu beleuchten. Aber in der Kurzform wollen wir noch ein bisschen weiterdenken: Ostern steht für den Neuanfang. Für den Neuanfang unter dem Vorzeichen der Liebe Gottes. Meine alten Kriterien stehen unter Umständen Kopf …

Und da sind wir dann wieder beim Unangenehmen, welches Neuanfänge mit sich bringen können. Dass die alten Kriterien nicht mehr notwendigerweise gelten, kann mich sehr verunsichern. Ich hatte mich so schön eingerichtet. Der Dichter hat es leicht zu jubeln: „… und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne …“
Ich will nicht schon wieder neu anfangen, ich will zurück ins Gemütliche oder zumindest Vertraute; dahin, wo ich mich auskannte …

Jedes Leben steht unter dieser Spannung. Das Paradebeispiel der Bibel ist vielleicht das Klagen der Israeliten, die Gott gerade eben erst in die Freiheit geführt hat, und denen das zu ungewohnt, zu unsicher, zu beängstigend wurde, sodass sie lieber in die Gefangenschaft zurückwollten, weil man das halt kannte und damit zwar gefangen, aber zumindest satt war. Und jetzt scheint Ostern zu sagen: „Nein, neu anzufangen ist gut!“ Hermann Hesse hatte recht: Dem Neuanfang wohnt ein beschützender und lebensfördernder Zauber inne. Theologisch würde man vermutlich sagen: Der Mensch gehört in die Freiheit, und je mehr wir uns irgendwo einrichten, desto mehr geht die Freiheit verloren. Neu anzufangen bewahrt uns vor falschen Sicherheiten.

Natürlich kennt Gott unsere Ängste und versteht unser Festhalten-Wollen an alten Sicherheiten. Nichtsdestotrotz will er das absolut Beste für uns: Die Freiheit und keine Abhängigkeiten von irgendwas oder irgendwem. Und um da hinzukommen gibt es nur eins: Neuanfänge! Täglich. Stündlich.

Aus österlicher Sicht ist das die Dynamik guten Lebens: Immer wieder neu anzufangen. Eben mal wieder Mist gebaut? Kein Problem: Umkehren, neu anfangen! Das ist natürlich nicht immer leicht. Gerade, wenn der Neuanfang aus ganz anderen Gründen erzwungen ist. Aber auch dann führt die Dynamik letztlich in die Freiheit und aus allen Abhängigkeiten heraus. Außer natürlich, dass es in stärkere Abhängigkeit zu Gott führt. Und das ist dann, wie Glaubende aller Religionen das erleben, keine Abhängigkeit, sondern unser Ankommen am Ziel der Sehnsucht, die tief in jedem Menschen schlummert.

Ich habe bis vor Kurzem zehn Jahre in Asien gelebt. Dort gibt es viel an Lebensweisheit zu beobachten und zu bewundern. Aber es wird eben auch deutlich, wie unzertrümmert die Höllentore – übertragen gemeint – dort oft noch im Zentrum des Lebens stehen. Fehler müssen unbedingt vermieden werden. Das fesselt und bedrückt die Menschen. Und auch bei uns lernen wir das von den verschiedensten Meinungsmachern. Gerade dieser Tage versuchen Populisten mit einer Mischung aus Angst und Richtigkeiten eine Illusion von Sicherheit zu verkaufen. Ostern dagegen verkündet fröhlich: Nein! Macht Fehler und fangt wieder neu an. Lebt angstfrei, der Höllen Pforte ist zerstört. Wagt Freiheit, ihr seid bedingungslos geliebt.

Ostern wirbt darum, den Zauber des Neuanfangs zu entdecken. Im Vertrauen auf Jesus, der an Ostern die Welt auf den Kopf gestellt hat, kann ich immer wieder neue Wege wagen. Wenn ich mich darauf einlasse, dass Neuanfänge etwas Gutes sind, werde ich wahrscheinlich merken, wie viel Energie in dieser Dynamik steckt, und wie gelassen und weise ich werde und damit letztlich dort hinkomme, wo Gott jeden Menschen haben will: in die unverschämte Freiheit der Kinder Gottes.

Text: Jan Martin Depner
Artikelfoto: Istockphoto.com