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Farbe bekennen!

„Im Mittelalter gab es wahrscheinlich keinen Menschen, der nicht tätowiert war“, sagte ein Professor für Kunstgeschichte zu mir. Mitglieder von Bruderschaften und Gilden konnten ihrer bestimmten Gruppe oder Zunft durch Tattoos genauso zugeordnet werden, wie Angehörige von Adelshäusern durch Tätowierung der Familienwappen. Dazu gesellten sich Tattoos, von denen die einen zu Lebzeiten vor Unheil bewahren sollten und andere, die quasi als Absicherung nach dem Tod – etwas platt ausgedrückt, einer religiös-christlichen Leistungsschau gleich –, Petrus wortwörtlich vor Augen führen sollten, wen er da vor sich hat: vielleicht einen Rom-, Santiago- oder Jerusalempilger, dem, bitteschön, der angemessene Platz zuzuweisen sei.

Dabei ist die Tradition christlicher Tattoos schon viel älter: Predigten des 4. und 5. Jahrhunderts lassen darauf schließen, dass Christen einiger Regionen zu Beginn ihres verbindlichen Erstkontaktes mit der Kirche, teilweise bereits jahrelang bevor sie getauft wurden, ein Kreuzzeichen empfingen. Es markierte – vielleicht in Form einer Tätowierung auf der Stirn – für jeden erkennbar den Eintritt in die christliche Gemeinschaft.

Auch auf der Innenseite des Unterarms prangten Zeichen wie das X (für Christus) oder I. N. (für Jesus von Nazareth), ein Lamm, Kreuz oder Fisch. Diese Tattoos wirkten gemeinschaftsstiftend innerhalb der heranwachsenden christlichen Gruppe und gleichzeitig abgrenzend gegenüber der Umwelt.

Die Tattoos spiegelten für jeden öffentlich sichtbar die religiöse Identität ihrer Träger wider. Dadurch mussten diese jederzeit „Farbe bekennen“, also bereit dazu sein, Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihnen ist (1. Petrusbrief 3, 15).

Zahlreiche palästinensische Christen im Heiligen Land tragen heute ein schlichtes Kreuz als Tattoo auf der Innenseite des linken Unterarmes als sichtbares Zeichen des Glaubens, als Herzensangelegenheit, manche äthiopische Christinnen tragen es auf ihrer Stirn. Das bekannteste christliche Tattoo-Studio in der Altstadt Jerusalems ist das des koptischen Christen Wassim Razzouk. Er führt nach eigenen Angaben eine 700-jährige Familientradition fort und wird von Jerusalempilgern aus aller Welt, Jugendlichen aus der Jerusalemer Altstadt und manchmal sogar von Israelis aufgesucht. Zahlreiche Bilder finden sich unter #razzouktattoo oder razzouktattoo.com

Text: Martin Brons
Artikelfoto ganz oben:
Avrum Burg,
restliche Fotos: privat

Andrea Krogmann (Journalistin und Fotojournalistin) hat sich im Jerusalemer Studio Bizzart einen Panoramablick der Jerusalemer Altstadt auf den Rücken stechen lassen. Sie schreibt: „Jerusalem hat mich vom ersten Moment an fasziniert. Es ist schön und es ist sperrig, geht unter die Haut und manchmal tut es weh. Das Tattoo ist Ausdruck dieser Faszination und Verbundenheit. Es entstand in dem Augenblick, als ich mich für Jerusalem und gegen andere Städte entschieden habe.“   Foto: Avrum Burg 

Jahrhundertealte christliche Motivstempel des Jerusalemer Tattoostechers Wassim Razzouk   Foto: privat

Pfarrer Dr. Norbert Roth (St. Matthäus München) schreibt über sein Tattoo: „Das Jerusalem Kreuz – die fünf Wunden Jesu. Er, der Retter der Menschen. Im Orient tragen viele Christen in der Bedrängnis ein tätowiertes Kreuz als Zeichen. Freiheit und Gebundenheit. Schmerz und Trost. Angst und Zuversicht. Leben und Tod.

Diese ‚Wunde‘ trägt mein Herz schon lange – die Wunde auf der Haut ist ein sichtbarer, schmückender und bekennender Ausdruck dessen, was unsichtbar in mir ist.“   Foto: privat

Eine äthiopische Christin Jerusalems mit dem Kreuztattoo auf der Stirn   Foto: privat