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Friedhöfe – Orte des Lebens
Friedhöfe – Orte des Lebens

„Haus des Lebens“ heißt der Friedhof in der jüdischen Tradition. Mir fallen Menschen ein, für die ein Friedhof zu einem Ort des Lebens geworden ist, einem Ort, der irgendwann dazugekommen ist zu ihrem Leben, weil ein Mensch gestorben ist, den sie lieben und der nun dort begraben liegt.

Was als einzigartiger Trauerweg beginnt am Tag der Beisetzung, das verwandelt sich durch Besuche, die der Grabpflege dienen und der Beziehungspflege über den Tod hinaus. Dann weicht die Anspannung, und der Friedhof ist nicht mehr nur ein Ort des Abschieds und der Trauer. Er wird zu einem Ort des Lebens. Für manche werden die zuvor unheimlichen Friedhofswege sogar zu vertrauten Alltagswegen.

Eichhörnchen, Vögel und Gießkannen
In der Stadt sind Friedhöfe auch für viele, die dort selber keine Angehörigen liegen haben, ein Lebensort. Sie gehen dort spazieren, lesen die Namen. „Die Olga Hinterberger, schau“, sagt eine zu ihrer Freundin, „im Krieg ist sie noch gestorben und hat nicht mehr miterleben müssen, dass ihr Sohn Rudi gefallen ist, zwei Jahre später.“ Und dann denken die beiden Freundinnen an den Vater und überlegen, wie das für den gewesen sein muss und woran überhaupt die Olga gestorben sein könnte, mit nur 47 Jahren … Friedhöfe sind Lebensorte. Bäume und Büsche schützen und trösten. Eichhörnchen und Vögel sind unbekümmert unterwegs. Geschäftige Menschen mit Gießkannen und Harken begegnen denen, die mit suchendem Blick zu einem seltenen Besuch kommen.

Ein Zweig von unserem Weihnachtsbaum
Friedhöfe haben allen, die auf dem leise knirschenden Kies hinter dem Sarg oder der Urne hergingen, einen Weg gezeigt und eine Form ermöglicht für den Abschied. Und nun ist da „das Grab“, zu dem die Gedanken hinwandern. Und man kann selber dort hingehen. „An jedem Weihnachtsfest gehen wir zuerst zum Grab unserer Tochter. Wir bringen ihr einen Zweig vom unserem Weihnachtsbaum, geschmückt mit Kerzen und Sternen“, erzählt jemand. „Unsere Kinder – auch die beiden, die erst geboren worden sind, als sie schon nicht mehr gelebt hat – erleben so gerade an Weihnachten ganz intensiv, dass unsere Älteste mit dazugehört zur Familie.“ Eine Frau erzählt von der Grabstele, die sie hat anfertigen lassen für das Grab ihres Mannes. „Jugendstil“, sagt sie, „das hat er so geliebt. Und wenn ich jetzt zum Grab gehe, dann weiß ich, dass er sich darüber freuen würde.“

Der Name auf dem Stein
Jemand anderes sagt: „Ich habe all die Namen aus der Familie, die schon verstorben sind und an deren Gräber ich nie komme, hinten auf den Grabstein schreiben lassen. Ich habe dann einfach das Gefühl, dass meine Mutter hier nicht so alleine liegen muss … Manche gehen kaum zum Grab. „Da ist mein Sohn nicht“, erzählt jemand. „Was soll ich da mit einem Grabstein reden. Aber wenn die Nachbarin zum Gießen geht und den Namen meines Sohnes liest, dann weiß ich, dass sie an ihn denkt – und das tröstet mich.“

Hoffnung, das ist vielleicht zuallererst die Hoffnung, dass der geliebte Mensch, der hier begraben liegt, nicht vergessen ist, dass er Teil der individuellen und der gemeinsamen Erinnerung bleibt, wenigstens noch eine Zeit lang. Dass der Name, der auf dem Stein steht, Menschen berührt und erinnert, dass die Geburts- und Todesdaten diejenigen, die vorbeigehen, für einen Moment innehalten lassen: so jung, so alt, so bald nach seinem Mann, nach seiner Frau …

Lebenssaat im Gottesacker
Hoffnung auf Auferstehung? Wer weiß noch, dass Friedhöfe früher „Gottesacker“ hießen? Dass der verstorbene Großvater, die verstorbene Großmutter, nicht begraben, sondern in den Gottesacker gelegt worden sind, sorgfältig wie Saatgut und in der Hoffnung darauf, dass Gott selbst diese Lebenssaat aufgehen und auferstehen läßt. Als Kind hat mich dieser Gedanke fasziniert und ich habe den alten Namen nie vergessen. „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt. / Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt. / Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. / Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.“ (Evang. Gesangbuch Nr. 98)

Auf einem kleinen Friedhof habe ich vor kurzem ein Grabzeichen gesehen, das mich sehr berührt hat: ein geschmiedetes Kreuz, und daran eine Jesusfigur, die sich tief nach unten beugt, mit dem Arm in die Erde greift und die zu sich holt, die dort ruhen …

Manchmal blüht geschenktes Leben auf
Jeder hat seine ganz eigenen Hoffnungsbilder und Hoffnungsgeschichten. Ein Lied kann das sein oder die Erfahrung von Gehaltensein mitten im tiefsten Schmerz oder das gemeinsame Bekenntnis am Grab. „Christ ist erstanden“, manche Gemeinden feiern mit Posaunen am Ostersonntag früh um sieben auf dem Friedhof diese Hoffnung auf Auferstehung. Manchmal aber schlägt die Hoffnung Herzenswurzeln über Jahre hin, wächst durch viele Fragen hindurch, nährt sich aus der Erfahrung, wie die Verbundenheit mit unseren Toten wächst über die Zeit hin, auch wenn manche Erinnerung verblasst. Und manchmal blüht geschenktes Leben auf, in dem Lebende und Tote miteinander verbunden sind. Unvergesslich ist mir ein Paar, das mir vor vielen Jahren begegnet ist. Wo haben Sie sich denn kennengelernt? „Auf dem Friedhof“, sagt sie strahlend. „Ich bin immer zum Grab meines Mannes gegangen und mein Mann ist immer zum Grab seiner Frau gegangen. Und irgendwann habe ich mal ein Osterei für ihn versteckt hinter dem Grab …“ – „Und da habe ich mir gedacht: diese Frau interessiert mich“, ergänzt ihr Mann.

Wie nah sind uns manche Toten
Auch so kann ein Friedhof zum Ort des Lebens werden – und vielleicht klingt deshalb in Wolf Biermanns Ballade vom Hugenottenfriedhof in Berlin beides an: die Erinnerung an die Toten – und die Lebendigkeit der
L(i)ebenden: Wir hakeln uns Hand in Hand ein / Und schlendern zu Brecht seinem Grab / Aus grauem Granit da, sein Grabstein / Paßt grade für Brecht nicht schlecht / Und neben ihm liegt Helene / Die große Weigel ruht aus / Von all dem Theaterspielen / Und Kochen und Waschen im Haus. // Dann freun wir uns und gehen weiter / Und denken noch beim Küssegeben: / Wie nah sind uns manche Toten, doch / Wie tot sind uns manche, die leben.

Text: Barbara Hauck