Pilgerforum
Fußspuren

Der Camino hat Zeit

Ich liebe es, den Camino zu gehen, weil man so unglaublich langsam unterwegs ist. Ich reise sehr gerne, aber der Camino hat mir gezeigt, dass man nicht hundert Länder besuchen muss, um die Welt zu sehen – man muss nur langsam genug gehen. Aber ich muss mich dazu überwinden – nicht nur auf dem Weg, sondern auch im Leben.

Der Camino ist wie das Leben

„Camino de la vida“ – „Weg des Lebens“ steht über einer Jakobsmuschel, tätowiert auf meinem Fuß. Denn der Camino ist kein „Urlaub“ vom Leben, sondern konfrontiert einen mit dem Leben: Ich erlebte Tage voller Kraft und Energie und Tage, an denen von morgens bis abends immer irgendetwas anderes wehtat. Ich ging an manchen Tagen allein, an anderen in Begleitung. Manchmal singend, manchmal schweigend. An einigen Tagen konnte ich Mitpilgern helfen, an anderen war ich auf Unterstützung angewiesen.

Der Camino versorgt

So kam es, dass ich aus dem Nichts einen Wanderstock geschenkt bekam, ohne den ich den nächsten Tag wahrscheinlich nicht überlebt hätte. So konnte ich auf einem Camino fast jede Etappe allein pilgern, weil diese „Zeit für mich“ damals wichtig war, und nur ein Jahr später den gesamten Weg mit einer festen Pilgergruppe gehen, weil ich auf diesem Weg Menschen an meiner Seite brauchte. Und so hatte eine Pilgerin eine Unterhose für mich übrig, als meine vom Wäscheständer verschwunden war.

Der Camino verbindet

Am Ende zählen immer die Begegnungen, denn ich bin davon überzeugt, dass die tiefsten Spuren in unserem Leben nicht von uns selbst stammen. Der Camino gibt Zeit und Raum, Gott außerhalb von Kirche, Religion und Tradition zu entdecken. In Natur und Menschen und Einsamkeit. Auch mir begegnete Jesus noch mal ganz neu und zeigte mir, dass er uns nicht nur in besonderen Momenten begleitet, sondern den ganzen Weg über. Ich wollte damals ein großes, lautes Gotteserlebnis, stattdessen bekam ich eine tiefe, stille Offenbarung: „Ich bin der Weg.“ (Joh 14,6).

Zudem herrschen Ruhe und Distanz, die eine neue Begegnung mit dir selbst möglich machen. Mit Ängsten, Unsicherheiten, Sehnsüchten und Schönheiten. Und die Pilger laufen mit einer Offenheit für die Begegnung mit anderen Menschen: Egal woher diese Menschen kommen, was sie beruflich machen, was sie glauben oder wie alt sie sind. Ich z. B.
kämpfte mich die Berge hinauf mit einer Polin, sammelte Muscheln am Strand mit einem Italiener, ließ mich tätowieren mit einer Amerikanerin, lernte Steine übers Wasser springen zu lassen von einem Dänen, trank Valhalla-Schnaps mit einem Finnen, lachte mich zu Tränen mit einer Südtirolerin und sang Beatles-Songs mit Pilgern aus sechs verschiedenen Nationen.

Aber ohne dich ist der Camino nur ein Netzwerk aus markierten Pfaden und Muschelsymbolen, denn „Wege entstehen dadurch, dass wir sie gehen“ (Franz Kafka) – also zieh dir doch am besten mal selbst den Rucksack auf und geh los .

Text und Artikelfoto: Elisabeth Kneip, 26 Jahre, seit September 2017 Jugendpastorin der Landeskirchlichen Gemeinschaft am Dürer, berichtet vom Camino auf Instagram (elises_camino) und würde gerne mal von Nürnberg nach Santiago laufen.