Kirche
Gefühlvolles Glaubensleben

 

 

 

„Dies ist also der Grund, warum unsere Theologie voller Gewißheit ist: sie reißt uns von uns selbst los und stellt uns
außerhalb von uns [extra nos], so daß wir uns nicht auf unsere Kräfte,
unser Gewissen, unsere Wahrnehmung, unseren Charakter und unsere Werke, sondern auf das verlassen, was
außerhalb von uns ist, das heißt: auf die Verheißung und die Wahrheit
Gottes, die nicht trügen können.“ *

*Martin Luther

„Jesus lachte nie“ – da ist sich der Benediktinermönch Jorge von Burgos aus Umberto Ecos Weltroman „Der Name der Rose“ ganz sicher. Tatsächlich verstanden die Christen des Mittelalters beim Lachen keinen Spaß. Jesus sei stets ernst gewesen – und jeder müsse ihm darin nacheifern. Bis ins 11. Jahrhundert hinein galt in den Klöstern daher strengstes Lachverbot. Sicher dürfte jedoch sein: Wo Jesus auftrat, waren Emotionen greifbar. Der unheilbar Kranke, die ausgestoßene Frau, das verlorene Kind – wo sich der Mann aus Nazareth den Menschen liebevoll zuwandte, da gingen die Herzen auf. Das wohl stärkste Gefühl der Welt – die Liebe – steht im Mittelpunkt von Jesu Doppelgebot: Gott und den Nächsten wie sich selbst lieben – das ist der Kern des Evangeliums. Doch wie sehr darf sich der Glaube mit Emotionen verbinden? Darüber gingen die Meinungen im Lauf der Christentumsgeschichte immer wieder auseinander.

Klar ist: wenn es um Glaubenspositionen ging, konnten sich Christen schon immer heftig streiten. Wir ahnen die Emotionen des Apostelkonzils, in dem Paulus und Petrus zwischen 44 und 49 n.C. eine heftige Auseinandersetzung darüber führten, ob die jüdischen Ritualgesetze in Zukunft auch für Heidenchristen gelten sollten.
Das rund 400 Jahre später stattfindende Konzil von Ephesos ging als „Räubersynode“ in die Kirchengeschichtsbücher ein, weil Patriarch Dioskur von Alexandrien mit Hilfe von Soldaten und militanten Mönchen die Glaubensmeinung durchsetzen wollte, dass Jesus Christus nur eine einzige, nämlich göttliche Natur habe. Der Versuch endete in einer wilden Schlägerei. Auch wenn gewalttätige Konflikte dieser Art wohl eher die Ausnahme bildeten, kochten bei der Diskussion von unterschiedlichen Glaubenspositionen die Emotionen immer wieder hoch. Neben politischen oder standesrechtlichen Einflüssen dürfte ein Hauptgrund dafür sein, dass der Glaube etwas ist, das den Menschen in seinem Wesenskern betrifft. Wo die persönliche Glaubensidentität auf dem Spiel steht, kommen Emotionen ins Spiel. Manch Kritiker würde Religion wegen dieser gefährlich irrationalen Züge am liebsten abschaffen lassen.

Doch die Auseinandersetzung mit den Fragen, die den Menschen in seinem Innersten ausmachen, lässt sich schwerlich nüchtern führen. Als emotionales Wesen kann der

Mensch nur glauben, wie er auch lebt. Und so ist die Kirchengeschichte voll von Berichten über Christen, die ihren Glauben leidenschaftlich und gefühlvoll auslebten. Besonders in der christlichen Mystik entwickelte sich die Anschauung, dass ödes „Tatsachenwissen“ in Bezug auf den Glauben an Gott nicht alles sein kann. Die Karmeliter-Nonne Theresa von Avila (1515) schreibt: „Da widerfuhr es mir, dass mich ganz unverhofft ein Gefühl der Gegenwart Gottes überkam, so dass ich in keiner Weise bezweifeln konnte, dass Er in meinem Innern weilte oder ich ganz in Ihm versenkt war.“
Auch von Martin Luther sind emotionale Züge überliefert: in heiter-derben Tischreden und cholerischen Ausbrüchen zeigte Luther, dass er ohne Zweifel ein „bauchgesteuerter“ Christenmensch war. Gerade deshalb hatte Luther aber auch seine Probleme damit, wenn das eigene Gefühl zum Hauptkriterium dafür gemacht wird, ob der Mensch Gottes Liebe und Annahme glauben kann.

Im Augustinerkloster in Erfurt plagten ihn heftige Angst- und Schuldgefühle, dass er dem Zorn Gottes als sündiger Mensch einfach nicht entgehen könnte. Weil er seine eigene Gefühlwelt nicht als zuverlässige Quelle für seinen Glauben erlebte, betonte Luther das göttliche Handeln von außen: „Dies ist also der Grund, warum unsere Theologie voller Gewißheit ist: sie reißt uns von uns selbst los und stellt uns außerhalb von uns [extra nos], so daß wir uns nicht auf unsere Kräfte, unser Gewissen, unsere Wahrnehmung, unseren Charakter und unsere Werke, sondern auf das verlassen, was außerhalb von uns ist, das heißt: auf die Verheißung und die Wahrheit Gottes, die nicht trügen können.“
Diese wichtige Einsicht Luthers war in der Folgezeit wohl einer der Gründe dafür, dass der Protestantismus sich eher als eine nüchterne und kopflastige Form des Glaubens weiterentwickelte. Befeuert wurde dies in

der Neuzeit durch die unheilvolle Erfahrung, dass durch quasi-religiöse Gefühle der Manipulation durch Menschen Tür und Tor offen stehen. Gerade das Nürnberger Reichparteitagsgelände hat viel davon zu erzählen, wie die NS-Propagande gezielt die Gefühlswelt ansprach und durch religiöse Inszenierung ein Gefühl von Erhabenheit und Übermenschlichkeit erzeugte. So kommt es, dass nicht wenige protestantische Zeitgenossen eher ein ungutes Gefühl beschleicht, wenn Glaube und Emotion, z.B. in pfingstkirchlich geprägten Gottesdiensten, zu intensiv aufeinandertreffen.

Es war der einflussreiche Theologe Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der das Gefühl auch im Protestantismus wieder zu mehr Ehre brachte: Der Glaube an Gott sei eine Art „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit von Gott“. Viele moderne Zeitgenossen konnten an dieser Beschreibung anknüpfen und sei es nur durch die schlichte Feststellung: „Irgendwie scheint es da draußen mehr zu geben, mit dem ich auf geheimnisvolle Weise verbunden bin.“

Heute weiß nicht nur die Neurowissenschaft: Was sich jemand nicht emotional aneignet, wird gar nicht angeeignet. Längst werden Bildungspläne so überarbeitet, dass dem Schüler Wissen auf emotionale Weise vermittelt werden soll. Und auch die Kirche entdeckt wieder mehr: Emotion darf, nein – sie muss sogar sein, wenn Menschen in einer ganzheitlichen Weise dem Evangelium von der frei machenden Liebe Gottes begegnen sollen. Und so gibt es hier und dort wieder mehr Mut zum Gefühl: die emotionale Kraft von Kirchenräumen (z.B. in den großen Stadtkirchen oder auch in der Nürnberger Jugendkirche) wird bewusst in Szene gesetzt. Während einer Predigt darf auch einmal gelacht werden. Kirchenmusik schafft „Gänsehautfeeling“. In der Kontemplation begegnen Menschen Gott auf emotionale Weise.

Geschieht es aus den vielschichtigen Erfahrungen der Kirchengeschichte heraus, kann Kirche einen wichtigen Freiraum für Emotionen bieten. Weinen, Lachen, Trauern, Hoffen, Überwältigtsein, Durchatmen, Seufzen, Danken, Bitten – die Kirche ist ein idealer Ort für all das. Wem dabei die Worte ausgehen, darf das alte Buch der Psalmen zur Hand nehmen. Da wird zu Gott geschrien und gehadert, aber auch gejauchzt und getanzt. Ein leidenschaftlicher Glaube kommt nicht ohne all diese Emotionen aus.

Text: Tobias Fritsche
Bild: Wikipedia
Collage: Madame Privé