Besinnung
Gott begegnen in der Natur?!

„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ – Martin Buber, dem jüdischen Existenzphilosoph, ist es wie kaum jemanden sonst gelungen, die Kraft von Begegnung für unser Menschsein und unsere Gottesbeziehung herauszuarbeiten. Doch wie begegnet uns die Natur und wie begegnen wir ihr?

Heute lacht mir der Himmel entgegen. Endlich mal wieder im Wald unterwegs duftet es nach Kiefern, Pilzen und Moos. Dazu das sanfte Rauschen des Windes und eine Sonne, die auf der Farbpalette spielt.  Das Denken beruhigt sich und bildschirmgeeichte Augen gehen wieder auf. „Geh aus mein Herz und suche Freud“ dichtete Paul Gerhard. Und ist es nicht wirklich so? Meist genügt doch schon eine halbe Stunde Flanieren mit allen Sinnen im Stadtpark und wir finden Freude. Das Mindeste, was geschieht: Wir fühlen uns körperlich ausgeglichener als zuvor. Die Natur bewirkt täglich kleine Heilungswunder. Meist so selbstverständlich, dass wir es kaum noch bemerken.

Doch draußen in Fauna und Flora kann noch mehr geschehen. Die 39 jährige Selma erzählt: „Als die Sonne aufging, überkam mich eine große Ruhe, und doch war es mehr als nur Ruhe. Es war Freude, Entzücken, Schönheit, Liebe. Das Gras zu meinen Füßen war wie verzaubert, die Vögel, die ihr Frühstück suchten, über alle Maßen schön. Das Universum war großartig geworden. Das Göttliche schien überall… Ich hörte auf zu beten, weil ich selber Gebet war.“  (aus: Sylvia Koch-Weser, Geseko v. Lüpke, Vision Quest, Mchn. 2000, S. 231)

Ein Hymnus an Vater Himmel und Mutter Natur. Wer mit christlicher Mystik vertraut ist, entdeckt in Selmas Erlebnis viel Bekanntes. „Wenn ich mit offenen Augen betrachte, was du mein Gott geschaffen hast, besitze ich hier schon den Himmel.“ Hildegard von Bingen, berühmte Äbtissin und Mystikerin im 12. Jahrhundert, beschreibt solche Momente tiefer Verbundenheit zwischen Mensch, Natur und Gott in den glühendsten Farben. Mit „Viriditas“, der „Grünkraft“ benannte die visionäre Nonne die Kraft Gottes in seiner Schöpfung, Jesus ist für sie das „inkarnierte Grün“. Nicht zu reden von Franz von Assisi, dessen Liebe zu „Bruder Sonne“ und „Schwester Mond“ ihn zum Heiligen der Ökologiebewegung macht.

Vision Quest als spiritueller Weg

Selma ist aber weder Nonne noch Heilige. Sie machte ihre Erfahrungen als Frau von Heute im Rahmen einer Visionssuche (engl. Vision Quest) draußen in der Natur. Visionssuche? – Das klingt nach irgendetwas Abenteuerlichem zwischen Dschungelcamp und mystischem Spitzenerlebnis. In Wirklichkeit bezeichnet das Wort eine relativ neue Seminarform:  Mann oder Frau gehen darin tatsächlich auf Reisen – innere wie äußere. Wer heute auf Visionssuche ist, macht sich nach einer gemeinsamen Vorbereitungszeit auf, vier Tage und vier Nächte allein und fastend in der Wildnis zu verbringen. Angeboten werden Visionssuchen in den Wüsten Arizonas oder in Norwegen, aber auch in den Bergen Österreichs oder ganz „ortsnah“ in ruhigen Teilen der Fränkischen Schweiz.

Sylvia Koch-Weser und Geseko von Lüpke, beide erfahrene, „wettergegerbte“ Leiter von Visionssuche-Gruppen, beschreiben ihre „drei wichtigsten Bestandteile“ bzw. „Tabus“:
1. „Keinen Kontakt mit anderen Menschen, kein Handy als Sicherheit.“
2. „Den Elementen und natürlichen Bewohnern einer Landschaft ausgesetzt sein“. Nur ein Schlafsack und „eine kleine Plane zum Schutz gegen Regen und Sonne“ sind erlaubt.
3. „Kein Essen, lediglich Wasser“ soll zu sich genommen werden.

Diese Vorgaben nehmen Frauen und Männer vier Tage und Nächte freiwillig auf sich. Selbst für naturverbundene Menschen ist das eine Herausforderung. Wie ist das für mich? Nachts allein in Wald oder Wüste? Auf was kann ich verzichten? Was hält die Natur für mich bereit?

Schon das Packen des eigenen Rucksacks wird zum spirituellen Thema, weiß ein Quester zu berichten. „Um beim Gepäck Platz zu sparen, kaufte ich mir für meine Visionssuche ein Kinderzelt. Stellen Sie sich mal vor,  ich war allen Ernstes mit einem Spielzeugzelt nach Schweden gereist. Im ersten Sturm vor Ort merkte ich dann sehr eindrücklich, wie diese Entscheidung mit einem mir bisher nicht bewussten Seelenthema zusammen hängt: Nicht Erwachsen werden zu wollen. Vaterlos aufgewachsen gab es niemanden, der mir vorlebte als Mann zu meiner Verantwortung zu stehen. Die Zeltwahl spiegelte mir meinen Entwicklungsweg, der sich erst draußen in der Natur klar zeigte. Die Erkältung vor Ort war diese Einsicht wert.“

Dabei ist das Risiko, sich während einer Visionssuche Schlimmeres zu holen als eine Erkältung, geringer als man denkt. Steven Foster, Meredith Little und andere Pioniere des Ansatzes haben über die letzten dreißig Jahre tausende Menschen begleitet, ohne dass es zu schweren Unfällen kam. Sind wir dann, wenn wir mit wachem Herzen unterwegs sind und uns verletzlich machen, in besonderer Weise geschützt? Wie immer man das sieht, eine erfahrene Quest-Leitung überprüft in jedem Fall ihre „Quester“ bereits im Vorfeld sorgfältig: Sind Krankheiten oder psychische Einschränkungen vorhanden, die draußen überfordern?

Aufgabe der Leitung ist es gemeinsam mit jedem Teilnehmenden in Vor- und Nachbereitung das richtige Maß zu finden. So ist es für manchen bereits genug, in Rufweite des Basislagers und der Leitung seine Auszeit zu verbringen. Selbst das Fasten ist kein Muss. „Eine Diabetikerin wird ihre gewohnte und notwendige Ernährungsweise draußen weiter einhalten.“, so Franz P. Redl, der in Wien eine Wildnis-Schule leitet. „Es geht darum, seine Grenzen kennen zu lernen und sie anzuerkennen – nicht sie mutwillig zu überschreiten.“ Vision Quest ist also kein Survival-Training oder Extremsport. Jede und jeder kann bis ins hohe Alter hinein mitmachen, wenn sie oder er sich davon angezogen fühlt. „Was auch immer ansteht, Trennung, Trauer, eine berufliche Neuorientierung oder die Suche nach dem Ursprung Deines Lebens,  Therapeutin ist die Natur selbst“, so glaubt Sylvia Koch-Weser.

Sternstunden unter freiem Himmel

Auch wenn Christinnen und Christen traditionell Gott als heilende Kraft in der Natur wahrnehmen und nicht diese selbst als Therapeutin, ist all das einem christlichen Gottes- und Weltbezug sehr viel näher, als es den meisten bewusst ist. Es sind gerade die Sternstunden christlicher Offenbarungsgeschichte, die unter freiem Himmel ihren Platz finden. Biblische Geschichten erzählen davon: Angefangen von der Gottesbegegnung des Mose am brennenden Dornbusch, einer Pflanze mit der Gott das Gespräch mit Mose eröffnet, bis zu Elia, der Gott – gegen die Gottesbilder seiner Zeit! – im „sanften, verschwebenden Schweigen“ eines Wüstenwindhauchs vernimmt. Dazu kommt Jesus selbst, der 40 Tage Prüfung in der Wüste für nötig hält, bevor er sein Lebenswerk beginnt, Gottes Reich den Menschen nahe zu bringen: Gott ist mitten unter uns. Auch Baum, Berg und Blume sind seine Werke, wo wir ihm begegnen können und so werden die Lilien und Spatzen für Jesus zum Spiegelbild, an denen wir Gottes Zuneigung und Fürsorge erkennen können. „Seht die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Schaut die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen…“

Wie viel Gott ist also in der Natur – „mitten unter uns“? Ist alles Gott, wie „Pantheisten“ glauben oder funktioniert Natur doch gottlos, nach eigenen Gesetzmäßigkeiten?
Die christliche Wahrheit liegt dazwischen: Gott wirkt durch alles, muss es aber nicht.
Bemerkenswert eindeutig formuliert Paulus dieses Wirklichkeitsverständnis: „Gottes unsichtbares Wesen, wird seit der Schöpfung der Welt ersehen aus seinen Werken, wenn man sie wahrnimmt.“ (Röm. 1,20).

So tief Formen von Naturspiritualität und wertschätzender Wahrnehmung der Schöpfung in der christlichen Tradition verankert sind, so sehr ist es Kennzeichen der weltweiten ökologischen Krise, dass Naturbeziehung und Spiritualität seit Jahrhunderten auseinandergefallen sind. An dieser Spaltung, vielschichtig über das aufklärerische Denken und die neuzeitliche Wissenschaft weitergetragen, leiden wir aktuell stärker denn je. Bald acht Milliarden Menschen besetzen jede ökologische Nische, um sie auszubeuten. Wie ein Wissenschaftler sagt: „Wir sind die erste Art, die sich dazu entscheiden kann, nicht auszusterben. Aber wir müssen die Wahl treffen.“ Können wir unsere Muster und Gewohnheiten ändern, um zukunftsfähig zu sein? Wer sich der Natur so aussetzt und der Begegnung mit ihr hingibt, wie das in einer Visionssuche geschehen kann, kann seinen Anteil im Prozess einer heilsamen Neuerung erfahren. „Vision“ wäre dann eine neue Sicht auf das Bestehende und bisweilen tatsächlich eine visionäre, gottgeschenkte Schau auf das, was zukünftige Wege aus der Krise sind – der individuellen, wie der kollektiven. „Um menschlich zu sein, muss man in seinem Herzen Platz schaffen für die Wunder des Universums.“, sagt ein Sprichwort südamerikanischer Indianer.

(Text: Kerstin Voges, Foto: Ulrich Schineis)