Kirche
Grenzen in der Bibel
Grenzen in der Bibel

Was sind für Sie die großen Themen der Bibel?

Wenn ich raten darf, dann stehen Liebe, Erlösung, Auferstehung, Heilung oder Glaube weit vor dem Thema „Grenze“.
Aber erstaunlicherweise ist es die Grenze, die zu zentralen biblischen Erkenntnissen führt.

Es beginnt alles damit, dass Gott Trennungen durchführt und Grenzen zieht. Schlagen Sie doch Ihre Bibel gleich auf der ersten Seite auf. Gott trennt das Licht von der Dunkelheit am ersten Tag der Schöpfung. Er unterscheidet die Nacht vom Tag. Es gibt von Anfang an also Zeitunterscheidungen. Die Nacht ist die Phase der Ruhe, des Schlafes, der Müdigkeit, der Entspannung, und als Gegenstück dazu gibt es den Tag mit Licht, Wachstum, Aktivität und Lebendigkeit.

Am zweiten Tag dann die erste sichtbare Grenzziehung. Gott spricht: Im Wasser soll ein Gewölbe entstehen, eine Scheidewand zwischen den Wassermassen. So geschieht es: Gott macht ein Gewölbe und trennt so das Wasser unter dem Gewölbe von dem Wasser, das darüber ist. Und Gott nennt das Gewölbe Himmel. Eine Scheidewand wird gemacht, die oben und unten voneinander trennt, damit es nie wieder eine Urflut gibt und unten alles im Chaos versinkt. Wenn Sie die weiteren Schöpfungstage durchlesen, werden Sie schnell merken, dass sehr oft getrennt und unterschieden wird. Bevor also Leben entsteht, braucht es Grenzen. Die Grenzen sind notwendig, um den Raum zu schaffen, auf dem überhaupt gelebt werden kann. Gehört es zu einem Grundbedürfnis des Menschen, dass es Grenzen gibt und geben muss? Kann er sich nur dann entwickeln, leben und Mensch sein, wenn Grenzen existieren? Was bedeutet das wiederum für das Thema „Globalisierung“? Natürlich gibt die Bibel darauf keine aktuellen Antworten, aber vielleicht stellt sie die richtigen Fragen dazu und lenkt den Blick auf das, was bei der Diskussion unbedingt auch mitbedacht sein soll.

Wenn Ihr in dem Land lebt, das der HERR, Euer Gott, Euch geben wird, darf niemand die Grenzen seines Grundbesitzes, die seit alters festgelegt sind, auf Kosten seines Nachbarn verrücken. Grundbesitz musste zum Überleben bewahrt werden. In den Sprüchen wird dann ganz explizit gesagt, dass man die Witwen und Waisen nicht um ihr Land bringen darf. Sie sind schwach, sie können sich nicht einfach verteidigen. Es braucht also eine Grundlage, dass ein Mensch für sich selbst sorgen kann. Diese darf nicht wegfallen oder eingeschränkt oder vermindert werden. Auf der anderen Seite muss das Machtstreben anderer begrenzt werden. Die Regeln des Marktes und der Wirtschaft, des eigenen Profitstrebens sind nicht unbegrenzt, sagen die Menschen in der Bibel.

Der Lebensraum wird nicht allein durch Land und Besitz markiert. Prominent sind die zehn Gebote, die das Zusammenleben von Menschen regeln. Streng genommen sind es nur zwei Gebote: den Feiertag heiligen und die Eltern achten. Dazu dann acht Verbote. Können Sie alle 10 Gebote aus dem Stand aufzählen? Das können oft nur die Konfirmandinnen und Konfirmanden kurz vor der Prüfung. Die zehn und dazu die vielen anderen Rechtstexte im Alten Testament setzen dem menschlichen Handeln eine Grenze.

Evangelischer Glaube definiert sich gern über Freiheiten. Da passen Ge- und Verbote erst mal gar nicht hinein. Aber Freiheit war ursprünglich etwas anderes als das, was wir heute darunter verstehen. Freiheit heißt heute: Was ich nicht muss. Luther fragte: Wozu bin ich frei? Was darf ich – sein und tun? Wo lässt Gott mich ran? Welchen Spielraum habe ich, was kann ich riskieren, ohne Angst vor dem Versagen? Gott schafft durch die Begrenzung den Spielraum, um in Freiheit zu leben.
Es gäbe noch einiges zu entdecken, wenn es darum geht, dass Gott Grenzen setzt. Denken Sie etwa an die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Doch werfen wir jetzt mal einen Blick auf Abraham. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will“ (1. Mose 12 Vers 1). Abraham soll alles verlassen, was ihm bisher Schutz, Sicherheit und Lebensraum war. Alles, was er gewohnt war, was ihm vertraut war, was er kannte, das soll er verlassen. Bindungen, Freundschaften und sein soziales Umfeld gehören nun der Vergangenheit an. Er soll Grenzen überschreiten und ein neues Land bewohnen. Warum soll dieser alte Mann gerade jetzt das Alte verlassen, aufbrechen, ins Unbekannte ziehen und dabei alle möglichen Grenzen wie Zweifel, Mut, Energie, Familie, Sicherheit usw. überwinden? Darauf gibt die Bibel keine eindeutige Antwort. Welche Grenzen sind zu überwinden, welche zu respektieren? Gibt es dafür eine allgemeingültige Regel, die immer in Geltung ist? Nein, wer aufmerksam liest, wird feststellen, dass die Bibel klare Grenzen für den Lebensraum benennt, aber was das Leben selbst angeht, sind manchmal Grenzen strikt zu ziehen und einzuhalten und manchmal muss man mit Gott über Mauern springen. Eines hat Abraham aber im Gepäck: Die Segenszusage Gottes. Nur so kann er den Aufbruch und die Grenzüberschreitung wagen.

Nur wenige Kapitel später wird Abraham selbst zum Grenzbauer. Die Bibelforscher haben gelehrt, dass wir uns Abraham und Lot als Kleinviehnomaden vorzustellen haben. Leute, die mit Zelten hin- und herziehen, die immer dort ihr Lager aufschlagen, wo die Landbesitzer – kanaanitische Bauern – ihre Felder abgeerntet haben. Schaf- und Ziegenherden werden über die Stoppelfelder getrieben. Sie fressen, was es an Vegetation noch gibt. So eine Art Nomadentum braucht natürlich viel Platz, denn es ist nicht viel zu holen auf diesen spärlichen Flächen.

Man kann sich ausmalen, wie gereizt die Hirten reagieren, wenn ihnen konkurrierende Herden in die Quere kommen. Bei den allermeisten Konflikten gibt es nicht „den Guten“ und „die Bösen“.
Es gibt nur Menschen unter Druck. Wie wir das auch kennen, entlädt sich ein äußeres Problem nach innen und wird persönlich. Der Mangel verwandelt zwei ansonsten verträgliche, friedliebende Menschen in Streithammel. Sie konnten nicht mehr beieinander wohnen, heißt es.
Sie konnten es nicht mehr, weil eben der eine dem anderen die Luft zum Atmen nahm und den Raum zum Leben zu eng machte. Abraham löst das Problem mit einer Grenze: „Trenne dich doch von mir! Willst du zur Linken, so will ich zur Rechten, oder willst du zur Rechten, so will ich zur Linken. Die Grenze ist besser als der Streit.
Auffällig ist, dass im Neuen Testament ausgesprochen oft Grenzen überschritten werden im Tun Jesu. Er eckt an, indem er Regeln bricht (Shabbat-Gebot). Da können ihn die Pharisäer und Schriftgelehrten noch so laut angreifen und angehen, er wendet sich den Schwachen, Kranken und Sündern zu. Er hat keine Hemmung, ins Haus eines Zöllners zu gehen und dort mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Seine Begründung weist den Grund für sein Tun: „Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße“ (Lukas 5, Verse 31 und 32). Das Heil, der Shalom, das Gute, das er in der Welt wirkt und bringt, kennt keine der üblichen Grenzen. Im Gegenteil, es überwindet die gängigen Grenzen und sieht nach der Bedürftigkeit der Menschen (siehe auch den Beitrag „Er ist über Grenzen gegangen“, Seite 8).

Mit jeder neuen Erzählung in den Evangelien breitet sich Heil aus. Dann greift Paulus die gute Nachricht auf und bringt sie über die Landesgrenzen zu den Juden und zu den Heiden. Er trägt in die Welt, was sein Leben verändert hat und das, von dem er glaubt, dass es die gesamte Welt verändern wird. Er missioniert und spricht vom Heil Gottes. Grenzen kennt dieses Heil nicht, „denn hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Galater 3, Verse 26a und 28). Eigentlich müsste jetzt noch ein Abschnitt kommen zur Auferstehung, der Überwindung der Todesgrenze und damit dem ewige Leben. Doch dazu sollten Sie in die Ostergottesdienste gehen. Dort von diesem Glauben nicht nur lesen, sondern in der Gemeinschaft mit anderer Christen feiern, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, nicht die Grenze bleibt, sondern die Überwindung der Grenzen ist.

 

Text: Simone Hahn
Bilder: iStockphoto