Gesellschaft
Extremsport:
Grenzen überwinden ist Faszination pur

„Vielleicht ist das ja noch gar nicht die Grenze gewesen?“ Wie fast jeder Extremsportler habe ich mich das gefragt, wenn ich meine bisherige Grenze überwunden hatte. Und dann?
Ich habe mich nie als Extremsportler gefühlt. Dieses Etikett wurde mir von anderen aufgeklebt. Freude am Sport hatte ich von Kindesbeinen an. Grenzen ausloten war eigentlich nie mein Thema. Freude an der Bewegung, am von Gott geschenkten Körper, das hat mich am meisten angetrieben.
Nach einem Jahrzehnt mit Radsport begann ich zu laufen, trainierte gerade vier Wochen, meldete mich zum ersten Marathon an, zwei Wochen später eine heftige Blockade in den Lendenwirbeln. Ich hatte versucht, meine Grenzen zu schnell zu erweitern.

Schließlich stand ich doch am Münchner Olympiastadion mit der Startnummer auf der Brust. Die erste Hälfte ging noch ganz gut, dann wurden meine Beine immer schwerer und ich immer langsamer. Am Marathontor im Olympiastadion schallte aus dem Lautsprecher: „One Moment in Time“. Die letzten 300 Meter waren nur noch Jubel. Dann durchs Ziel. Jetzt war ich ein Marathoni! Über diese Grenze von 42 Kilometer zu laufen, war berauschend. Ich habe es noch 32 weitere Male getan. Fast immer auf eine neue Bestzeit aus.
Dann kam ein Freund. Er wollte einen „Ultra“ schaffen. 69 Kilometer durch die Alpen, 3.000 Höhenmeter rauf und runter. Bei Kilometer 48 kann man auch schon aussteigen. Also sagte ich zu: „Ich mache mit; aber wahrscheinlich höre ich bei Kilometer 48 auf.“

Noch bei Finsternis losgelaufen, tagsüber 30 Grad, ein heftiger Muskelkrampf, keine Pause am letzten Gipfel. Dann das Ziel: Ich habe einen Ultra gefinisht! Nie werde ich den vergessen. War er der Lauf meines Lebens?
Mich lockten bald die nächsten Extreme an: 100 Kilometer oder 24-Stunden-Lauf. Aber sie passten nicht in meinen Kalender. Oder waren es die heimlichen Ausreden meines Körpers oder meines Verstandes, der sich doch nicht so recht daran wagte? Noch etliche Marathons, dann eine dauerhafte Muskelverhärtung. Einen Marathon lief ich bewusst als den letzten; genoss ihn und sagte CIAO. Grenze!
Heute laufe ich langsam und meistens unter 10 Kilometern. Mir fehlt (fast) nichts. Aber schön war es, ausgesprochen schön. Dankbar bin ich für die Erinnerung.

Und mein Resümee? Man kann nicht über jede Grenze gehen, aber über viele. Gefährlich wird es immer dann, wenn man nicht hört, was der Körper will. Grenzen zu überwinden hat mir viel Spaß gemacht, immer wieder, immer neue. Aber manchmal habe ich mich gefragt: Wozu?

So schließe ich mit Mahatma Ghandi:
„Es gibt wichtigeres im Leben, als beständig dessen Geschwindigkeit zu erhöhen.“
Ich übertrage: … als beständig Grenzen zu überwinden.

Text und Bild:
Jürgen Körnlein