Titelthema
Grundkurs Emotionen
Grundkurs Emotionen

Sie besteht aus

– einer Wahrnehmung: Ich höre etwas hinter
mir. Sind das Schritte?

– der „Bewertung“ dieser Wahrnehmung:
Ich habe Angst, wenn ich sie als die Schritte
eines „fremden Mannes mit Messer“ höre,
oder freue mich, wenn sie für mich die
Schritte meiner Freundin sind, die nun
doch mitkommt. Oder es sind eben Schritte
– weiter nichts.

– der Reaktion meines Körpers: Je nach
dieser Bewertung werden unterschiedliche
Hormone und Botenstoffe ausgeschüttet.
Die Folgen: Bei „Reizen“, die ohne Bedeu-
tung bleiben, passiert nichts. Aber bei
Angst wird mein Herz zu rasen beginnen.
Bei Freude wird es mir „warm ums Herz“ …

– dem Gefühl: Ich bin traurig, ich bin fröhlich,
ich habe Angst, ich bin so wütend!

– dem Gefühlsausdruck: Bei Freude beginne
ich zu lächeln, bei Trauer hängen meine
Mundwinkel herunter und bei Wut bekom-
me ich einen „roten Kopf“.

– ihrer Funktion: Ekel hilft, Vergiftungen zu
vermeiden, Wut macht stark, Angst schützt
und Liebe und Freude motivieren uns, sie
immer wieder zu suchen.

Dieses Zusammenspiel hat einen „Sinn“. Es signalisiert, dass etwas Besonderes los ist. Es klärt sowohl mich als auch die anderen über meine Gefühle und Absichten auf und schafft die Voraussetzungen für eine passende Aktion. Ein Beispiel: Jemandem wird unwohl – er sieht die Verfolgung seiner Interessen durch einen anderen bedroht. Er wird vielleicht wütend. Er fühlt diese Wut, sieht wütend aus und treibt vielleicht schon deswegen den, der sich ihm entgegenstellt, in die Flucht (oder veranlasst ihn einzulenken). Und wenn nicht, hat sich sein Körper darauf eingestellt, für seine Interessen zu kämpfen.

Los geht’s im Kopf

Emotionen beginnen im Kopf. Hier sind wir mit unseren Emotionen von Natur aus mit einem ultraschnellen Kommunikations- und Bewertungsinstrument ausgestattet. Nur ein Beispiel: Im Millisekundentakt registrieren wir den Gesichtsausdruck anderer Menschen und bekommen eine Information über ihre Gestimmtheit. Lange bevor wir mit unseren trägen Gedanken die Situation analysiert haben, wissen wir schon „den kann ich nicht riechen“, „der ist aber übel drauf“, „mit dem kann ich mich sicher fühlen“. Wir sind in der Lage, blitzschnell die Lage zu beurteilen, bevor das erste Wort gesprochen ist. Dafür gibt es in unserem Gehirn eine zen-
trale Schaltstelle, die Amygdala, auf deutsch Mandelkern. Dabei handelt es sich um eine etwa mandelgroße Ansammlung von Nervenzellen und Verknüpfungen, in der alle

Sinneseindrücke empfangen und mit unserer Erinnerung und der Erinnerung unserer langen Evolutionsgeschichte verknüpft werden. Von dort gibt es eine Expressverbindung zu anderen Regionen im Gehirn. Eine Sortierung beginnt: Ist das eine Bedrohung oder etwas Schönes, Freundliches, Erregendes …? Die passende Reaktion unseres Körpers wird „angeknipst“. Unterschiedliche Hormone und Botenstoffe sorgen dafür. Und erst jetzt werden die Zentren im Gehirn informiert, die einen neuen Abgleich des „Auslösers“ mit unserem Wissen, unseren Werten und erlernten Verarbeitungsmustern ermöglichen. Eine gedankliche (kognitive) Bewertung wird möglich. Aber erst dann! Bevor die träge Welt der Gedanken anfängt zu arbeiten, ist eine grundsätzliche Einordnung schon erfolgt: in unserer Welt der Emotionen.

Das Starter-Kit

Emotionen gehören zur Grundausstattung des Menschen. Selbst Babys können sie vom ersten Tag an ausdrücken, obwohl sie genau genommen noch gar nicht in unserem Sinn fühlen können, da die Strukturen im Gehirn, die dafür „arbeiten“, noch nicht entwickelt sind. Aber sie zeigen Vorläufer-Emotionen in einem äußerst vielfältigen Mienenspiel durch ihr angeborenes Repertoire von Gefühlsausdrücken. Wir können nicht anders, als diesen Ausdrücken Bedeutung und die „passenden“ Gefühle zuzuschreiben. Und: Wir reagieren – hoffentlich – passend. Im Austausch mit den Eltern differenzieren sich aus Wohlsein, Unwohlsein und unspezifischer Erregung oder Entspannung Basisemotionen, die überall auf der Welt verstanden werden. Wie viele das sind? Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen. Freude, Überraschung, Trauer, Ekel, Angst und Wut gehören jedenfalls dazu. In den nächsten Monaten und Jahren kommen weitere hinzu. Scham zum Beispiel und Schuld. Beide werden Kleinkinder frühestens mit ein, zwei Jahren zeigen. Denn sie setzen ja ein Bewusstsein der eigenen Identität und ein erstes Wissen über richtig und falsch, Gut und Böse voraus. Auch Stolz zum Beispiel kann erst der empfinden, der sich seiner als Individuum grundsätzlich bewusst ist und zumindest ahnt, dass er auch hätte scheitern können. Ob die Zahl der unterschiedlichen Emotionen dann bis auf über hundert ansteigt, wie manche Emotionsforscher behaupten, oder diese vielen „neuen“ nur Ausdifferenzierungen der grundlegenden ersten sind? Fest steht, dass sich unsere Emotionen weiterentwickeln und zwar abhängig von unserem familiären Umfeld und der Gesellschaft, in der wir aufwachsen und leben. Wir lernen die Bewertungen, den Ausdruck und die Kontrolle darüber.

 

Störungen

Ich bin so glücklich, ich liebe, habe Angst, bin wütend, niedergeschlagen, verzweifelt, aufgeregt … und dann in anderen Situationen unter anderen Bedingungen wieder ganz anders. Wir sind „emotional schwingungsfähig“ – so nennen Psychotherapeuten und Ärzte diese Fähigkeit – und haben eine ganze Palette von Emotionen zur Verfügung, mit denen wir – unser Gehirn und unser Körper – auf Wahrgenommenes reagieren. Aber es gibt auch Störungen! Die spektakulärsten sind sicher die, die auf Defekte in jenen Hirnregionen zurückzuführen sind, die ganz unmittelbar mit der Entstehung der Emotionen zu tun haben. Diese sind glücklicherweise selten. Gar nicht selten sind jedoch Störungen, die die Bandbreite unserer Gefühle einschränken oder die uns unseren Stimmungen ausliefern: „Dauernd grüble ich: Was wird, was kann passieren, was aber, wenn?! Tausend Sorgen wirbeln durch meinen Kopf. Meine Ängste haben mich im Griff.“ Oder: „Ich kann mich zu nichts mehr aufraffen. Ich bin traurig, weiß nicht warum, fange ohne jeden Grund an zu weinen.“ Oder: „Immer morgens zwischen drei und vier kommt die Angst. Ich kann kaum mehr atmen. Wovor ich Angst habe? Ich weiß es nicht. In meinem Kopf ist nur der Satz: Ich habe Angst! Ich kann nicht mehr!“ Oder: „Nichts bereitet mir mehr Freude! Nicht mal meine Enkel können mich noch aufheitern. Was soll das eigentlich alles noch?“ Oder: „Woher soll ich wissen, wie es mir geht? Leer bin ich, nur leer!“ Und: „Nichts fühle ich mehr! Nicht einmal mehr weinen kann ich. Meine Frau sagte: Du siehst aus wie ein Stein. Ja, so fühle ich mich, kalt und ohne Gefühle – wie ein Stein.“

Es gibt Hilfe

Die Menschen, die sich so beschreiben müssen, sind oft überwältigt von dieser neuen emotionalen Welt. Oft meinen sie, dass dieser quälende Zustand nun für immer so anhalten würde. Aber es gibt Hilfe, und irgendwann stellen sie fest: Ich bin wieder die/der Alte: Ich kann mich endlich wieder freuen, mich wieder ärgern, kann wieder traurig und fröhlich sein, lachen und weinen, und wenn ich Angst habe, weiß ich, wovor. Das Durchschreiten eines Tals der gestörten Emotionalität kann eine wichtige Lebenserfahrung sein: „Jetzt da die Depression hinter mir liegt, kann ich vieles anders sehen und ich weiß, was ich anders angehen werde.“

Text: Dr. phil. Rose Riecke-Niklewski, Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeutin
Artikelfotos: iStockphoto.com
und
Prof. Dr. med. Dr. phil. Günter Niklewski, Psychiater und Psychotherapeut