Gesellschaft
Ist weniger mehr?
Ist weniger mehr?

Minimalismus, Downshifting, Tiny Houses. Viele modische Begriffe machen derzeit Karriere in den Lifestyle-Magazinen. Dabei geht es jedoch um eine uralte Sehnsucht, die schon den heiligen Franz von Assisi umgetrieben hatte: Mit möglichst wenig Besitz ein maximal erfülltes und zufriedenes Leben zu führen.

„Dieses Jahr schenken wir uns einfach mal nichts.“ Diese Worte meiner Mutter habe ich noch gut im Ohr. „Haben wir nicht alles, was wir brauchen? Und das Wichtigste ist doch, dass wir gesund sind und zusammen sein können.“ Über einige Jahre hinweg startete sie Anfang Dezember diesen vorsichtigen Versuch, dem weihnachtlichen Konsumzwang ein Schnippchen zu schlagen. Und der alljährlichen Herausforderung, sich für die Menschen, die man liebt, immer wieder als Geschenk etwas Neues und Passendes und Originelles und nicht zu Teures und nicht zu Billiges einfallen lassen zu müssen. Was ihr bei uns jungerwachsenen Kindern immer noch gut gelang, aber bei meinem Vater inzwischen sichtlich schwerfiel.

Am Ende lagen dann doch für alle liebevoll ausgesuchte und verpackte Präsente unter dem Christbaum. Dennoch war sie mit ihrem Vorstoß instinktiv einer Erkenntnis auf der Spur, die heute die Glücksforschung auch empirisch bestätigen kann: Nicht der materielle Wohlstand ist letztlich ausschlaggebend für eine hohe Lebenszufriedenheit, sondern die gelungenen sozialen Beziehungen und immaterielle „Besitztümer“ wie ausreichend Zeit für Muße, Kreativität und sinnerfülltes Engagement.

Gerade jüngere Menschen wenden sich zunehmend ab von einem Lebensstil, der sie in eine geradezu erstickende Überfülle hineinzulocken versucht: Überquellende Kleider- und Schuhschränke, eine hochfrequente Taktung an Whatsapp-Nachrichten, vierstellige Facebook-Freundeslisten, abgehakte Reiseziele auf der Weltkarte. Weniger ist mehr. Und: Qualität statt Quantität. Beginnend bei den Ratgebern zum Thema „Simplify your life“ bis zu den Entrümpelungs-Video-Blogs neuerer Minimalismus-Ikonen macht sich dieser neue Trend zur Einfachheit immer deutlicher bemerkbar. Und dies nicht nur bei den Jungen, die es immer schon verstanden haben, ihre studentische Finanzschwäche als bewussten bohemistischen Lebensstil umzudeuten.

Aber warum ziehen gutverdienende Paare, die sich eine der raren großen Altbauwohnungen in begehrter Innenstadtlage leisten könnten, in ein bauwagengroßes Holzhäuschen am Stadtrand mit Aussicht ins Grüne? Warum nimmt der leitende Angestellte seine wertvollen Urlaubstage, um zu Fuß und mit einem kleinen Rucksack ausgestattet. 2000 Kilometer auf alten Pilgerpfaden zurückzulegen? Warum boomen wieder Do-it-youself-Workshops, Secondhandläden und Repair-Cafés?

Nicht immer dürfte am Anfang eine bewusste kritische Entscheidung zur Konsumverweigerung stehen, die dem kapitalistischen Zwang zur steten gesteigerten Verwertung entkommen möchte. Oft ist es erst einmal ein tiefes Gespür für die sinnentleerte Logik eines „Viel arbeiten um viel kaufen zu können (was man dann doch eigentlich nicht gebraucht hätte)“. Die Abwehr von Reizüberflutung und Schnelllebigkeit. Und die Entdeckung von Zeitwohlstand, Langsamkeit und Stille als echten Faktoren von Lebensqualität. Sein statt Haben, so brachte es Erich Fromm schon 1976 in seinem Bestseller auf den Punkt. Und aus dem „Small is beautiful“ eines Ernst Friedrich Schumacher von 1973 erwuchs eine fundamentale Kritik an der Logik des ökonomischen Wachstumszwangs. Heute ist es schon fast wieder zu einem Luxusgut geworden, sich ein „einfaches Leben“ leisten zu können, das im Konsum auf Langlebigkeit, Nachhaltigkeit und Reparierbarkeit achtet. Oder eben auch mal gelassen sagen kann: Ach, das brauche ich doch gar nicht. Einfachheit kann so schnell wieder zu einem heimlichen Prestige-Wettbewerb verdreht werden. Aber letztlich werden wir unseren Seelenfrieden und auch ein ökologisches und gesellschaftliches Gleichgewicht nur dann finden können, wenn wir eine neue Tugend ganz nach oben rücken: Das Weglassen. Auch mal an Weihnachten.

 

Text: Thomas Zeitler

Foto: istockphoto

 

 

INFO

Fülle in der Stille: Ein Angebot zum gemeinsamen Schweigen

Auch im Bereich des Gottesdienstes ist es möglich, mit minimalistischen Formen an Liturgie, Worten und Musik auszukommen. Ab dem 1. Advent lädt St. Egidien an jedem ersten Sonntag im Monat zu einer „Stillen Stunde“ in die Kirche ein. Beginnend mit dem Mittagsläuten um 12 Uhr und nur strukturiert von Gebet, Lesung und Segen besteht die Gelegenheit zum gemeinsamen Schweigen vor und in Gott. Nicht nur Dietrich Bonhoeffer schätzte ein solches „Schweigendes Gebet“. Die Tradition reicht zurück bis in die Gedanken- und Gefühlswelt der Mystik, die keiner Worte mehr bedarf, um Gott zu erfahren. Oder zur „Stillen Andacht“ der Quäker, die sich darin üben, offen zu werden für Gottes Wirken durch den Heiligen Geist in der Seele des Menschen.

Die erste „Stille Stunde“ in Egidien gibt es dann am Sonntag, 2. Dezember um 12 Uhr, auch am 1. Weihnachtsfeiertag und am
6. Januar. Im Anschluss besteht immer die Möglichkeit, bei einer Tasse Tee beieinander zu sein und zu reden.