Themengeschichte
Gewaltfreie Kommunikation
Mit Gefühlen umgehen ohne Gefühlsduselei

In meinen Seminaren höre ich häufig Vorbehalte gegenüber Gefühlen. Es ginge doch darum, sachlich miteinander umzugehen. Vielen Menschen ist intensiver Gefühlsausdruck bei sich und anderen eher peinlich oder macht ihnen Angst. Die Erziehung hat vielen vermittelt, dass man für die Gefühle anderer verantwortlich ist und sich schuldig fühlen sollte, wenn jemand unglücklich oder wütend ist. Und die meisten Menschen haben schon erlebt, dass ihre Gefühle in irgendeiner Form manipuliert wurden. Ist die Skepsis also angebracht?

Gefühle sind ein unverzichtbarer Teil unserer Menschlichkeit, eine wichtige Quelle für Lebensfreude, und besitzen das Potenzial, Verbindung zwischen Menschen zu schaffen. Menschen könnten Entscheidungen ohne die emotionalen Zentren des Gehirns gar nicht treffen, da sie sich in den Pro- und Contra-Argumenten verlieren würden, ohne wirklich zu spüren, was für sie eigentlich Bedeutung hat.

Die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) nach Marshall Rosenberg ist eine Kommunikationsmethode und wichtiger noch, eine innere Haltung –, die einen anderen Umgang mit Gefühlen vorschlägt. Gefühle werden als Signale verstanden, die etwas über den eigenen inneren Zustand aussagen. Gefühle wie Angst, Wut oder Trauer lassen uns wissen, dass ein Bedürfnis unerfüllt ist. Freude, Entspannung oder Begeisterung weisen auf erfüllte Bedürfnisse hin. Andere Menschen wirken durch ihr Verhalten natürlich auf uns ein und lösen damit Gefühle aus. Aber die gute Nachricht ist, dass niemand „Schuld“ hat an den Gefühlen anderer – die Quelle dafür liegt in jedem Menschen selbst, in seiner Bedürfnislage.

Ein Beispiel: Sie fahren nach der Arbeit mit der U-Bahn nach Hause. Sie sind müde und freuen sich darauf, in Ruhe Ihre Zeitung zu lesen. Da steigt eine kinderreiche Familie ein, und die Kinder turnen mit Gekreische um die Haltestangen herum. Vermutlich fühlen Sie sich jetzt genervt oder ärgerlich, weil Ihr Bedürfnis nach Ruhe und vielleicht Rücksichtnahme gerade im Mangel ist. Ihnen gegenüber sitzt eine ältere Dame, die das vergnügte Treiben lächelnd verfolgt. Vielleicht war sie den ganzen Tag allein zuhause und freut sich jetzt über die Lebendigkeit. Das bedeutet, die Faktenlage alleine schafft keine Gefühle – aber Fakten plus Bedürfnislage plus eigene Bewertungen einer Situation sehr wohl!

Wenn Gefühle so verstanden werden, ist die erste Devise bei jedem auftretenden eigenen Gefühl: Innehalten und nachforschen – worum geht es mir (hier) gerade? Was brauche ich, was vermisse ich, welcher Wert ist berührt? Hier treten zunächst oft die eigenen Gedanken in den Vordergrund. Zurück zum Beispiel: Angesichts der tobenden Kinder lautet Ihre gedankliche Bewertung in etwa so: „Himmel, ist das jetzt laut hier. Die Kinder sind total rücksichtslos, und den Eltern scheint es egal zu sein, können die nicht mal einschreiten?“

Diese Vorwürfe gegenüber den Kindern oder Eltern zu äußern, mag zwar zur eigenen Entlastung von Spannung beitragen. Erfahrungsgemäß erzeugt diese Art der Kommunikation beim Gegenüber aber wenig Kooperationsbereitschaft. Stilles In-sich-Hineinschimpfen hat auf Dauer den Preis, dass die eigenen Bedürfnisse zu kurz kommen. GFK zu praktizieren unterstützt dabei, einen lebensdienlichen Ausdruck für die eigenen Bedürfnisse zu finden, und gleichzeitig die Bedürfnisse anderer im Blick zu behalten.

Wenn Sie jetzt den – deutlich ungewohnteren – Schritt tun, ausgehend von der Faktenlage Ihre Bedürfnisse zu erforschen, können Sie erleben, dass eine Art von Klarheit und Beruhigung der eigenen Gefühle eintritt, sobald die relevanten Bedürfnisse wirklich spürbar sind. „Ah ja … Ruhe … und Rücksichtnahme, das ist in mir gerade aktuell.“ Ausgehend von dieser Klarheit können Sie entscheiden, was Sie tun wollen, um für eine bessere Erfüllung dieser Bedürfnisse zu sorgen. Beispielsweise eine freundliche Bitte an die Eltern zu richten, für mehr Ruhe zu sorgen. Oder den Platz zu verlassen und sich ein ruhigeres Abteil zu suchen. Oder nichts zu tun, weil Sie bei der nächsten Station sowieso aussteigen werden. Variante 2 und 3 kommt Ihnen sonderbar vor? Weil Sie damit ja gewissermaßen „das Feld räumen“? Warum sich diese Lösungswege dennoch stimmig anfühlen können, liegt an zwei Faktoren:

Eine Grundannahme von Marshall Rosenberg war, dass es für jedes Bedürfnis verschiedene Wege zu seiner Erfüllung gibt. Wenn das eigene Bedürfnis klar ist, wird es leichter, neben der eigenen „Lieblingsstrategie“ weitere Möglichkeiten zu sehen. Der zweite Faktor ist das Mitgefühl – die menschliche Fähigkeit, sich in die Gefühls- und Bedürfnislage anderer hineinzuversetzen und der urmenschliche Wunsch, zum Wohlergehen anderer beizutragen – vorausgesetzt, es geschieht freiwillig und kein anderes wichtiges Bedürfnis steht entgegen. Wenn Sie die Kinder aus dem U-Bahn-Beispiel mit offenem Herzen betrachten, können Sie erkennen, dass sie fröhlich und ausgelassen sind und das Spiel genießen; oder vielleicht wahrnehmen, dass sie voller Spannung sind vom Tag und wirklich Bewegung brauchen. Wenn Sie nach einer guten Lösung suchen, die die Bedürfnisse aller berücksichtigt, entstehen vielleicht noch ganz neue Möglichkeiten. Das gewählte Beispiel ist vereinfacht, weil es keinen Dialog beinhaltet – da wird es natürlich etwas anspruchsvoller, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen Person innerlich gleichermaßen auf dem Schirm zu haben. Der Vorteil: Jeder kann mit der Haltung experimentieren, ohne sofort eine neue „Sprache“ lernen zu müssen. Erst mal kann und darf GFK ein Weg zur Selbsterforschung sein – was ist da in mir los? Im nächsten Schritt ist es dann ein Weg, um andere – und ihre Gefühle – besser zu verstehen.

Es kann spannend sein, im Wutanfall einer Vierjährigen das gigantische Bedürfnis nach Selbstbestimmung zu entdecken. Erwachsene können mit ihrem Frust oft etwas eleganter umgehen, aber jeder kennt das Bedürfnis, wenn es unerfüllt bleibt. Oder in der zynischen Art des eigenen Vorgesetzten seinen Schmerz darüber zu erahnen, wie fatal er die Außenwirkung des eigenen Teams gerade erlebt, und wie groß der Wunsch nach Anerkennung ist.

Menschen äußern Gefühle wie Schmerz oder Frustration oft in einer Weise, die es sehr schwer macht, Mitgefühl für die unerfüllten Bedürfnisse dahinter zu empfinden. Zu hören sind Vorwürfe, Schuldzuweisungen oder Klagen. Es ist in etwa so einladend, wie ein großes Paket auszupacken, das in mehrere Schichten schmutziges und zerknülltes Packpapier gehüllt ist – um im Inneren einen kleinen hungrigen Vogel zu entdecken, dessen Bedürfnislage sofort erkennbar ist, und der spontan Mitgefühl auslöst.

Anstelle von guten Vorsätzen fürs neue Jahr lade ich Sie ein, zu experimentieren und den Gefühlen und Bedürfnissen in Ihnen selbst wie auch in ihren Mitmenschen auf die Spur zu kommen – es könnte Ihr Leben verändern.

Text: Daniela Fuchs, Diplom-Psychologin, zertifizierte Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation nach CNVC mit Schwerpunkt auf Emotionaler Kompetenz und Konfliktlösung
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