Innenstadt
„Mit oder ohne Sünde?“, fragt der Kellner und lächelt Christian verschmitzt an! Christian muss sich nun entscheiden. Denn eigentlich isst er in der Fastenzeit nach 18 Uhr nichts mehr (Stichwort „Intervallfasten“). Die Fitnessuhr sagt: Es ist jetzt 20.23 Uhr.
Mit oder ohne Sünde?

„Mit oder ohne Sünde?“, fragt der Kellner und lächelt Christian verschmitzt an! Christian muss sich nun entscheiden. Denn eigentlich isst er in der Fastenzeit nach 18 Uhr nichts mehr (Stichwort „Intervallfasten“). Die Fitnessuhr sagt: Es ist jetzt 20.23 Uhr.
Also zu spät, oder? Ist die Sahnehaube auf dem Chai Latte überhaupt „Essen“? Ist das eine Sünde? Oder einfach nur lecker mit Kohlenhydraten für die Hüfte? „Mit Sünde!“, kommt die prompte Antwort und Christian lacht.

So schön kann Sündigen sein.

Wer sündigt, hat in der Regel aus religiöser Sicht ein schlechtes Gewissen und tut Buße. Wer isst, hat aus Sicht der Lebensmittelindustrie auch sehr oft ein schlechtes Gewissen. Denn wir essen entgegen den Empfehlungen zu fettig, zu süß, zu viel Fleisch, zu wenig Obst und nicht regional, nicht bio, nicht vegetarisch, nicht vegan genug und dazu noch zu den falschen Zeiten, nämlich nach 20 Uhr (Puh). Was verkauft man jemandem, der ein schlechtes Gewissen hat? Entweder man hilft ihm beim Verdrängen, oder man zeigt ihm einen Weg, wie er sich von seinen Sünden reinwaschen kann. Das ist ausgesprochen lukrativ. So kann man eine Essenskur machen, die nicht nur den Körper reinigt, sondern dazu auch den Geist von ungesunden Gewohnheiten befreit.

Smoothies der Marke „Innocent“ (übersetzt „unschuldig“) müssen ja gesund sein, so unschuldig wie sie einen aus dem Regal anblinzeln. Dazu tragen sie noch ein Gütesiegel. Das hat einen doppelten Effekt, denn Menschen halten Lebensmittel mit Gütesiegel automatisch rundherum für supergut. Psychologen nennen das den Halo-Effekt bei den Siegeln (Halo heißt „Heiligenschein“). Raffiniert, finde ich. Mit dem Ziel, ein reines Gewissen zu haben, was essen angeht, nehmen Menschen einiges auf sich. Sie setzen sich neue Gebote und Verbote (vgl. die Zehn Gebote ☺)
und sind bereit, für die Buße tief in die Geldbörse zu greifen. Oder sie folgen Heilsversprechen, was die innere Reinigung durch Brennesseltee oder Leinsamen angeht. Da wird eingeteilt in gute (Avocado, Gurke, Tomate) und schlechte (Weißbrot, Burger, Tortenstückchen) Lebensmittel und je nachdem, was er isst, hat der Mensch also einen guten oder einen schlechten Lebensstil.

Es wird unterschieden zwischen den Guten und den Bösen. Inzwischen hat die Ernährung tatsächlich Züge einer Ersatzreligion angenommen. Wer allein mit sich isst, dem macht das herzlich wenig aus. Er muss sich nur vor sich selbst rechtfertigen und wir wissen ja, das geht ziemlich einfach. Schwieriger wird es aber, wenn man mit anderen gemeinsam isst. Jetzt muss man erläutern, warum man noch immer Fleisch isst, oder warum vegan überhaupt nicht so einfältig ist, wie viele denken. Oder eben warum der Kräutertee einem den Magen umdreht, Sahnehäubchen überhaupt keine Sünde sind und Zucker Glücksgefühle bereitet. Oder vielleicht auch, warum man Trennkost aus Überzeugung macht oder warum man nicht ins Intervallfasten einsteigt. Solche Gespräche finde ich mittlerweile ermüdend und anstrengend, denn es geht nur um Rechtfertigung. Nie wird man freigesprochen, das Wort „Gnade“ ist vollkommen fehl am Platz, und auch, wenn alle am Ende erschöpft schweigen, verraten Blicke noch immer, dass man wieder mal auf der falschen Seite ist, was die eigene Ernährung angeht. Ja, Ernährung bestimmt den Lifestyle und ist für viele eine Ersatzreligion. Man ist, was man isst. Sünder oder Erlöster. Ganz easy, denn Du kannst Dich selbst erlösen und hast dann ein reines Gewissen. Zugleich macht es die ganze Sache aber auch schwierig, denn Du möchtest ja gut, edel und gesund entscheiden. Weder die Tiere noch die Umweltbilanz noch deine Gesundheit, dein Geschmack oder Dein Lebensgefühl sollen zu kurz kommen. Du willst es gut machen, aber kannst gar nicht allen Facetten gerecht werden.

Jesus wurde Fresser und Säufer genannt. Das muss nicht im Detail stimmen, gibt aber einen Hinweis darauf, dass er beides gerne gemacht hat. Auf welcher Seite würde er stehen? Bei gut oder böse? Alkoholleber? Pölsterchen an den Hüften? Rank und schlank? Vegetarisch und vegan? Oder sind diese Fragen unangemessen, weil über ihn so nicht geurteilt werden kann?

Mir persönlich ist es egal, was er davon war. Wichtig aber ist mir, dass er gesagt hat, der Mensch kann sich nicht selbst erlösen und freisprechen. Wichtig ist mir, dass er den Schöpfer und in ihm die Schöpfung geachtet hat. Wichtig ist mir, dass er Sünder vom Baum heruntergeholt und sich bei ihnen zum Essen eingeladen hat. Guten Appetit.
Text: Simone Hahn
Illustrationen: iStockphoto.com