Themenartikel
„Sei allem Abschied voran …“ – dem Ruhestand entgegengehen
Nach dem Sturm der Berufsjahre

Viele haben noch etwas Zeit vor sich, wenn sie sich auf ihren Ruhestand vorbereiten. Für sie geht es etwa um die Frage, was sie noch „stemmen“ möchten in den verbleibenden Berufsjahren, welches Projekt sie noch umsetzen möchten und von welchen Träumen, Plänen und Ideen sie sich realistischerweise verabschieden müssen. Konnten in früheren Jahren noch viele Möglichkeiten in die Zukunft projiziert werden, werden die Horizonte jetzt überschaubarer. Und Entscheidungen müssen getroffen werden. Das kann heilsam sein: Träume verabschieden, um sich nicht zu überfordern, und konkrete Ideen tatsächlich noch  verwirklichen.

Perspektiven werden aber auch über den Zeitpunkt des Ruhestandseintritts hinaus entwickelt: wie und wo werden wir, werde ich leben? Welches soziale Netz jenseits der beruflichen Kontakte wird mich tragen? Für viele Menschen ist ihr beruflicher Dienst eng verbunden mit der eigenen Identität, der eigenen Geschichte und Persönlichkeit – und die geht ja nicht mit dem Berufsende in den Ruhestand. Manche sind froh, bald von allen Verpflichtungen entbunden zu sein. Andere möchten sich gerne noch sinnvoll ehrenamtlich einbringen. 

In allen Berufsgruppen haben Menschen einen hohen Preis bezahlt für ihren Einsatz, wenn sie zu spät ihre eigenen Grenzen und Möglichkeiten anerkannt haben. Und manchmal mussten Ehepartner oder Kinder diesen Preis zahlen.

Manche Träume und Erwartungen sind unerfüllt geblieben. Manche wurden enttäuscht oder sind zerbrochen. Und manche sind auch gescheitert. Lebensgeschichten sind immer auch Geschichten von Brüchen. An all dem können wir gegen Ende unseres Berufslebens nichts mehr ändern. Gegen Ende besteht die große Herausforderung meines Lebens darin, mich mit meiner Geschichte zu versöhnen. Dazu muss ich vielleicht noch einmal anschauen, was mich verletzt hat oder wo ich verletzt habe, um es dann annehmen zu können als meine Geschichte. Für manche ist das die größte Herausforderung und Aufgabe gegen Ende eines Berufslebens.

Und für nicht wenige ist es schmerzlich zu erleben, dass das, was ihnen so wesentlich ist, auf immer weniger Resonanz trifft. Der rapide Bedeutungs- und Mitgliederverlust der Kirchen geht nicht spurlos vorüber an Pfarrerinnen und Pfarrern, die sich in ihrer Kirche mit all ihrer Kraft, ihrer Zeit und ihren Gaben für den Glauben eingesetzt haben. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit meines Tuns und meines ganzen Einsatzes kann sich noch einmal deutlich stellen, wenn ich darauf zurückschaue. Und schließlich macht der Ausblick auf den Ruhestand mir bewusst, dass mit ihm der Lebensabschnitt, der für die meisten fast ihr gesamtes selber verantwortetes bisheriges Leben bedeutet hat, nun zu Ende geht. Das Berufsende bedeutet auch, der eigenen Endlichkeit zu begegnen. Anzuerkennen, dass ich Abschied nehmen muss – jetzt von den Pflichten und Möglichkeiten einer Beauftragung, zunehmend aber auch von körperlichen und geistigen Kräften und in nicht allzu ferner Zukunft auch von diesem Leben. Ich begegne meiner Endlichkeit – und der Herausforderung, sie anzuerkennen, sie anzunehmen. Der Eintritt in den Ruhestand ist die äußere Wegmarke, die mir signalisiert, dass mein Leben sich dem Abend zuneigt. Nur, wenn es gelingt, auch diesem letzten Abschied voran zu sein, wie Reiner Maria Rilke es in seinem Gedicht schreibt, ihn anzunehmen, wird sich das Leben vollenden. Nur, wenn ich meine Endlichkeit nicht verdrängen muss, wird mein Alter auch zur Reife gelangen. Das ist nicht leichtfertig gesagt: der Schmerz und die Traurigkeit sind ein Teil dieses Abschieds. Aber nur durch diesen Schmerz und die Tränen hindurch kann mein Leben noch einmal aufblühen. 

Text: Pfarrer Frank Zelinsky, Rektor des Pastoralkollegs der ELKB
Artikelfoto: iStockphoto.com