Interview
Nachtschicht
Nachts sind die Gespräche anders

Bei der Telefonseelsorge ist Nachts Hochbetrieb. Margarethe Schmidt* (64) hört seit zehn Jahren am Telefon Fremden zu, die von den unterschiedlichsten Problemen berichten. Meistens übernimmt sie die Nachtschicht.

Hannah Friedrich (HF): Wann ist die Nacht am längsten?

Margarethe Schmidt (MS): Für mich persönlich um vier Uhr früh. Da kriecht die Müdigkeit langsam hoch. Man schaut aus dem Fenster und die ganze Stadt schläft noch. Gegen fünf geht es dann wieder. Da wird die Stadt langsam wach und ich weiß, dass ich nur noch zwei Stunden Schicht habe, die schaffe ich dann auch noch.

HF: Was finden Sie an Ihrer Arbeit besonders schön?

MS: Ich fühle mich so am Puls der Welt. Ich merke, dass mich diese Arbeit bei der Telefonseelsorge wach hält, auch im Kopf. Ich staune immer wieder, was „Mensch sein“ bedeutet, was es alles gibt. Es ist so bunt, dieses Mensch-Sein. Und das bringt mich zum Staunen, auch über die traurigen Dinge: Ich staune darüber, wie Menschen ihr manchmal sehr schweres Leben meistern.

HF: Wann fällt Ihnen Ihre Arbeit schwer?

MS: Wenn ich merke, dass bei manchen Menschen, die mich anrufen, einfach nichts vorangeht. Bei manchen ist das jahrelang so. Es fällt mir schwer, zu akzeptieren, dass jeder einen anderen Rhythmus hat, und dass manche Menschen auch einfach nicht wollen, dass sich etwas verändert. Und schwer fällt es mir natürlich auch bei schweren Themen wie bei Gewalt, Missbrauch oder Suizidgedanken.

HF: Was ist nachts anders als tagsüber?

MS: Nachts sind die Gespräche anders. In der Nacht ist alles schwerer. Die Emotionen sind dichter als tagsüber, und wenn jemand leidet – seelisch oder körperlich – ist das intensiver in der Nacht. Die Menschen kommen selten aus einem Gedankenkarussell heraus. Ich glaube auch, dass der Mensch nachts weniger belastbar ist.
Ich denke, man kommt nachts wegen diesem Gedankenkarussell meistens nicht weiter. Ich möchte dann nicht die großen Probleme des Lebens lösen. Für mich ist wichtiger: Wie kann dieser Mensch jetzt schlafen? Ich frage dann, ob eine Tasse Tee oder eine Wärmflasche helfen könnten. Obwohl wir sehr gut ausgebildet sind, sind wir sind ja keine Psychologen. Meistens sagen die Menschen auch: Ich möchte das einfach mal loswerden. Nachts dauern die Gespräche auch länger.

HF: Sind die Themen nachts anders?

MS: Nachts rufen andere Menschen an. Tagsüber sind es oft Menschen, die wir schon kennen und die einfach erzählen möchten, wie sie ihr Leben meistern. Aber nachts geht es meistens um konkrete Ängste. Ich glaube, in unserer Gesellschaft gibt es nicht mehr diesen Rhythmus – aufstehen, arbeiten, schlafen. Vor 20 Jahren hat man nachts geschlafen. Heute kann man nachts einkaufen, man kann nachts fernsehen oder wenn nichts kommt: Das Internet ist immer wach. Darum sind es heute nachts viel mehr Anrufer als noch vor zehn Jahren, als ich angefangen habe.
Themen sind nachts vor allem psychische Erkrankungen, Einsamkeit oder Partnerprobleme. Oder auch Krankheit, denn nachts hat man mehr Schmerzen und Ängste. Auch Sui-
zidgedanken sind in der Nacht ein großes Thema.

HF: Gibt es in der Vorweihnachtszeit andere Themen?

MS: Kurz vor Weihnachten schon, da geht es dann häufig um die Frage: „Ich bin das ganze Jahr allein und mit wem feiere ich jetzt?“ Außerdem gibt es diese Vorstellung von der heilen Welt, dass es bei allen anderen schön ist, nur bei mir nicht. Aber das ist wirklich nur kurz vor Weihnachten.
Es gibt natürlich auch Menschen, die Jahreszeitendepressionen haben, die dann ab den dunklen Novembertagen häufiger anrufen.

HF: Wie geht es denn Ihnen, wenn Sie nachts den Sorgen Fremder zuhören?

MS: Man muss lernen, seine Grenzen zu setzen. Mir geht es natürlich auch manchmal schlecht, da sage ich dann auch: „Mir geht es ganz schlecht, wenn ich das höre“. Oder: „Ich bin sprachlos“. Alle vier bis sechs Wochen haben wir Supervision, da werden wir auch gut aufgefangen. Wir tauschen uns auch ein bisschen aus. Wenn mir etwas unter den Nägeln brennt, dann kann ich das mit einem Kollegen besprechen. Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal und das ist manchmal einfach schwer. Aber natürlich gibt es auch einfach Sachen, die einen wahnsinnig berühren. Da fahre ich dann heim und denke: „Wie hätte ich das anders machen können?“
Andererseits – seit ich am Telefon sitze, bin ich noch viel dankbarer dem Leben gegenüber. Ich sehe viel mehr das kleine Glück, bin einfach dankbar, wenn ich heimfahre von der Telefonseelsorge und mir denke: „Mein Gott, geht es mir gut!“

HF: Liebe Frau Schmidt, vielen Dank für das Gespräch.

Text: Hannah Friedrich / *Name von der Redaktion geändert – als ehrenamtliche Mitarbeiterin bleibt die Seelsorgerin anonym