Innenstadt
Thesen zur Wahl.
Qualitativ hochwertige Religionsfreiheit

Dieses Zitat stammt aus einem wissenschaftlichen Artikel, der sich damit befasst, dass Kirche als Ziel die „religiös qualifizierte Stärkung der individuellen Selbstbestimmung“ hat. 

 

Sind Sie noch dabei oder haben Sie nach der Überschrift und dem ersten Satz keine Lust mehr weiterzulesen? Schade! Denn es geht darum, wie und was sich in der Kirche wandeln soll, damit das möglich wird. Wenn Sie die Porträts der Kandidatinnen und Kandidaten zur Kirchenvorstandswahl (KV-Wahl)im Oktober 2018 durchlesen, fällt Ihnen bestimmt auf, wie oft von Wandel oder Veränderung die Rede ist. Der mit hohem theologischem Anspruch verfasste Artikel, den der altgediente Kirchenvorsteher Richard Würffel und ich uns vorgenommen hatten, gibt eine Richtung an. Die „erste Aufgabe einer Kirche (…) ist dann sozusagen nicht die Erzeugung von Christen, sondern von Bürgern“. Es sei gleich gesagt, er hat uns nicht überzeugt, aber er hat uns zum Nachdenken angeregt!

 

1. „Kirche, die Platz macht“

Zu Beginn beobachtet der Autor, dass die Kirche mit Leere zu kämpfen hat: „Kirchengebäude und Gottesdienste werden leerer, Pfarrhäuser und Dienstwohnungen sind unbewohnt, Seminare haben Plätze frei, für Gremien findet man keine Kandidaten, Jugend- und Sozialverbände suchen Mitglieder“. Dem können wir beide gar nicht so viel entgegensetzen. Gut, für die Wahl in den Gemeinden der Innenstadt gab es genug Kandidatinnen und Kandidaten, sogar mehr als mindestens notwendig. Aber ich kann mich an Facebook-Seiten erinnern, auf denen eine Pfarrerin verzweifelt darum warb, dass sich jemand für die KV-Wahl zur Verfügung stellen solle, andernfalls drohe die Auflösung. Die Zahlen der Gottesdienstbesucher sind seit Jahren rückläufig. Nur die „Touris“ sind nicht aufzuhalten. Sie kommen, sehen und gehen wieder. Es stimmt, es ist Platz da. Platz oder Raum, der zu definieren ist, den man zur Verfügung stellen kann, der neu bewertet werden muss. Es ist Platz „für Talente, für Wachstum, für Potentialentfaltung. Platz für den je eigenen Reim auf das Leben.“ Richard Würffel sieht mich groß an, „Das schmeckt mir nicht! Das ist mir zu wenig als Christ!“. Dann zitiert er aus den letzten beiden Abschnitten, „eine Kirche, die Platz macht, motiviert und bildet Menschen, höflich und großzügig zu werden – und dies eben nicht in sauerer Pflichtethik, sondern als Klugheits- und Glücksprogramm. (…) In den leeren Freiheitsraum (…) anbietend zu erzählen, dass man höflich und großzügig leben kann- und wie das geht – und wie schön das ist – und wie nützlich für alle – und dass man da biografische und politische Entdeckungen macht, die einem den Atem rauben – das ist die Aufgabe und der Adel einer Kirche, die Platz macht“. Mich erinnert es an Glücksratgeber und ich frage mich, ob ich ab sofort eher Glücks- und Höflichkeitscoach werden soll. „Das Wichtigste für mich ist“, sagt Richard Würffel, „dass die Kirche persönlich ist, dass sie sich die Fähigkeit bewahrt bei jedem einzelnen Menschen Ängste abzubauen und Hoffnung aufzubauen durch die Botschaft von Jesus Christus.“ Aber könnte nicht genau dadurch die freiheitliche Selbstbestimmung gesteigert werden?

 

2. Von Anfang an Vielfalt

Schauen Sie sich mal die religiöse Landschaft in Nürnberg an. Sie werden staunen, es gibt ausgesprochen viele unterschiedliche Gruppierungen, Kirchen, Freikirchen, Kleinstkirchen, … religiöse Vereine etc., leider auch Sekten, in denen Christus zum unbarmherzigen Seelendiktator wird. Aber die Freiheit der Wahl für religiös Suchende ist enorm. Schauen Sie sich das Dekanat mit seinen Gemeinden an. Jede Kirchengemeinde hat einen eigenen Schwerpunkt. Keine ist absolut identisch mit einer anderen. Selbst die Predigten, die an einem Sonntag zum gleichen biblischen Text gehalten werden, so meint Richard Würffel, würden sich nicht nur ergänzen, sondern bestimmt in Teilen widersprechen … Schaut man dann über den Tellerrand der Stadt hinaus und in die Evangelische Kirche Deutschlands, erkennt man unglaublich viele Unterschiede. Vor allem in der Rechtsprechung und in der Feier von Gottesdiensten. Was in Berlin erlaubt ist, wäre in Bayern undenkbar. Wir lieben den Introitus und Hannoveraner hören in bayerischen Gottesdiensten an dieser Stelle auf zu singen und schauen sich groß an, weil sie so was noch „nie“ gehört haben. Vielfalt gab es von Anfang an. Die einen fanden Paulus eindeutig besser als Petrus. Für die anderen zählte keiner von beiden, sondern nur Apollos. Für den Gläubigen hieß das, du hast die Wahl! Bevor Sie jetzt denken, das klingt nicht nach Vielfalt, sondern nach Beliebigkeit, möchte ich ein wunderbares Bild von Richard Würffel zur Anschauung zitieren. Er sagt, entscheidend ist, dass in allem das Evangelium drinsteckt. Das ist wie mit Joghurt. Den gibt es in verschiedenen Geschmacksrichtungen. Aber egal, ob mit Erdbeere, Vanille oder Kirsch, entscheidend ist, dass alles wirklich Joghurt ist. Heute entscheidet man sich in der Regel zuerst mal nicht. Man wird hineingeboren in ein soziokulturelles Umfeld inklusive der religiösen Prägung. Die Entscheidung, die die meisten treffen ist die, dass sie austreten aus einer der großen Kirchen Deutschlands. Der Autor meint, das liege auch daran, dass die Relevanz von Kirche und Glauben für das eigene Leben nicht erkannt und deshalb nicht genutzt werde. Dass dem so sei, daran sei die kirchliche Struktur nicht unschuldig, meint er. Denn hier werden Menschen aufgenommen in Traditionsstränge, in die sie sich zu fügen haben, man schaue immer nur nach innen auf die eigene Gemeinschaft, verliere aber die „Welt“ auf dem Platz aus dem Blick und drinnen sei kein Platz für Individualität und das, was ein Mensch an Gaben selbstbestimmt einbringen kann. An diesem Punkt bemerkt der evangelische Kirchenvorsteher richtig, dass der Autor aus der katholischen Kirche kommt. Aber davon mal abgesehen, wie viel Freiheit ist in der evang.-luth. Kirche möglich? Sprechen nicht auch unsere Austrittszahlen dafür, dass wir mal kritischer hinschauen müssten, warum so viele – nicht nur aus Kirchensteuerspargründen – für sich den Weg wählen, auszutreten? Wie befähigen wir Menschen, im Glauben eine Relevanz für ihr Leben zu entdecken?

 

3. Vision für die Gesellschaft

Richard Würffel erzählt, was ihn an der Politik so fasziniert hat, dass er sich selbst engagiert hat. Wie wichtig es für ihn war, dass hier über Gesellschaft nachgedacht wird und wie Ziele verfolgt werden, um die Gemeinschaft und die Lebensqualität in einem Land nachhaltig zu verbessern. Das ist auf die Dauer anstrengend, ernüchternd, frustrierend und zugleich immer wieder voller Glückmomente und Erfolge. Der Autor würde sagen, auch wir Christen müssen uns fragen, was wir zu einer humanen Gesellschaftsgestaltung beitragen? Das sei sogar eine der wichtigsten Aufgaben und dazu müssten Gläubige befähigt werden. Christentum ist nichts für den Innenraum und das Kämmerlein zu Hause, es muss in der Gesellschaft wirken. Für diese große Vision brauchen wir Menschen, die selbstbestimmt sind. Damit sie das sein können, muss die Kirche ihnen dafür Raum und Platz geben, dann würde qualitativ hochwertige Religionsfreiheit entstehen, könnten Christen wirken für die Gesellschaft, aber vor allem für das eigene Leben als Klugheits- und Glücksprogramm. Denn wer sich bemüht, nach den Maximen Jesu Christi zu leben, wird zwar manchmal traurig, aber nie unglücklich sein.

An dieser Stelle brechen wir ab. Die Köpfe rauchen, aber wir ahnen, es lohnt sich weiterzudenken. Wenn Sie wissen wollen, wie der Artikel heißt und von wem er ist, dann melden Sie sich bitte bei Pfarrerin Simone Hahn!

 

Text: Simone Hahn und Richard Würffel