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Sie kümmert sich um Leib und Seele
Sie kümmert sich um Leib und Seele

Allzu oft wird „das“ Judentum als einheitlicher Block wahrgenommen – auch von gläubigen und engagierten Christen, die damit eigentlich besser vertraut sein sollten. Zumal es sich nicht nur in Israel oder den Vereinigten Staaten, sondern auch in Deutschland durch eine bemerkenswerte Vielfalt auszeichnet. Längst gehört dazu, dass auch Frauen Zugang zum geistlichen Amt haben. Die erste Rabbinerin in Deutschland war – lange vergessen und verdrängt – die Berlinerin Regina Jonas. In den 1930er-Jahren und bis in den Zweiten Weltkrieg hinein predigte sie in verschiedenen Synagogen, ehe sie deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet wurde.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Rabbinerinnen. Einige von ihnen stellen Antje Yael Deusel und Rocco Thiede in ihrem Buch „Reginas Erbinnen“ vor, das zu Jahresbeginn erschienen ist. Deusel, eine gebürtige Nürnbergerin, gibt damit zugleich ihren eigenen Vorgängerinnen und Kolleginnen eine Stimme. Sie ist selbst die erste deutsche Rabbinerin, die nach der Schoah in Deutschland ausgebildet und ordiniert wurde. 

Im November 2011 wurde sie zusammen mit vier männlichen Kollegen in der Bamberger Synagoge ordiniert. Bis 2015 war sie anschließend als Rabbinerin in der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg tätig, für die sie bereits vor ihrem Rabbinatsstudium lange Jahre in der Vorstandschaft engagiert gewesen war. Seit fünf Jahren ist Deusel die Rabbinerin der damals neu gegründeten Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila („Wohnung des Gebets“) in Bamberg, die zur Union progressiver Juden in Deutschland gehört.

Das liberale Judentum bildet eine der unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Judentums, neben orthodox und konservativ-traditionell. Vielerorts sind in Deutschland nach 1945 allerdings mehrere jüdische Strömungen in einer Gemeinde zusammengefasst, im Sinn einer Einheitsgemeinde mit meist traditioneller Prägung. Jedoch sind gerade in den letzten zwei Jahrzehnten daneben zunehmend auch jüdische Gemeinden entstanden, die sich als ausschließlich liberal verstehen.

Unterschiede gibt es in der Liturgie und im Text von Gebetbüchern – und in liberalen Gemeinden sind Musikinstrumente im Gottesdienst erlaubt. 

Parallel zu ihrem Engagement als Medizinerin und Rabbinerin ist die 61-Jährige auch als Dozentin tätig, so an der Universität Bamberg im Fach Judaistik. Auch an der Evangelischen Hochschule Nürnberg hat sie jeweils im Sommersemester einen Lehrauftrag. Zu den großen Herausforderungen des geistlichen Amtes gehört da, nicht anders als im Christentum, die Frage nach dem Leid in der Welt, wie gerade jetzt in der Zeit der Corona-Pandemie – und wie Gott das zulassen kann. Oder gehört es gar zu seinem Plan? 

Einfache Antworten könne es nicht geben – falls es in der Olam ha-se, also in unserer diesseitigen Welt, überhaupt eine Antwort geben könne, gab Deusel dazu vor gut einem Jahr in einem Interview mit ntv.de zu bedenken, so verständlich das Bedürfnis nach Erklärungen auch sei. „Aber ich habe eine Frage, nicht an den Ewigen, sondern an die Menschen: Wo hätte der Mensch sich anders verhalten müssen? Was hätte er tun können, um das Entstehen der Pandemie zu verhindern?“

Text: Wolfgang Heilig-Achneck
Artikelfoto: imagoimages