Innenstadt
Angetreten zur Erwartung
Skizze einer vorstellbar unvorstellbaren Situation

Warteten sie doch auf niemand Geringeren als den Neuen, den Lang-
ersehnten, den, von dem die Fama ging, es würde sich jetzt alles endlich zum Guten wenden – denn er könne es: Bisher Unerhörtes gehört; bisher Unerfülltes eingelöst; Sehnsucht gestillt und Frieden werden auf Erden!

Das Protokoll war bereit, vom rötesten Rot der Teppich ausgerollt, auch er die Bordsteinkante überragend. Ruhig lag er da und gab den Hintergrund zu schwarzpolierten Lederhüllen jeder modischen Facon, die einander mit ansteckender Spannung zu leisem Vibrieren animierten.

Kaum merklich gaben sie den korrekten 90°-Winkel zur Granitkante auf, synchronisierten sich neu in nun spitzem Erwartungswinkel dem Angekündigten entgegen.

Die Zeit dehnte sich und zuerst wenige nur brachen – innerlich selbstredend und jenseits des Protokolls – das Tabu und erlaubten ersten Zweifeln Zutritt zum hochgestimmten Gemüt und an der ganzen Inszenierung.

Ein Omnibus fuhr vorüber; voller winkender fröhlicher Kinder und wenigen weniger fröhlichen Erziehungsberechtigten. Keine Regierungsstandarten bewehrte Limousine! Ein Krankenwagen trat aus der Gegenrichtung mit an- und abschwellendem Hornton den Beweis des Dopplereffektes an. Ein kurzes bläuliches Aufleuchten auf den erwartungsgespannten Gesichtern erwies sich lediglich als Widerschein des Warnlichtes  auf dem vorbeieilenden Arbeiter-Samariter-Bund.

Der Bus kam zurück. Dicht an dicht mit müden Gesichtern zog die Frühschicht eines Automobilwerkes an den Wartenden vorüber.

Jetzt erwies es sich als Gewinn, dass sie alle hochprofessionell waren im Warten, im Erwarten. Einer versuchte dem leicht bitteren Gefühl von Enttäuschung in der Kehle mit einem versuchten Witz zu wehren:  Hat jemand die Türchen am Kalender gezählt? Vielleicht ist es noch zu früh?“ Bevor einer Lachen konnte, tippte dem Witzbold jemand auf die Schulter. „Wartet ihr auf mich?“ Eine freundliche, unaufgeregte Stimme.

Langsam wandten sie sich alle um, zeigten der Bordsteinkante die Absätze. Da stand einer und sah sie auffordernd an. „Das ist doch …!“

Zögernd erst, dann immer rascher wurden ihnen klar: Das war doch …
Der Witzbold erkannte ihn  zuerst: Das war der Stellvertreter des Vertreters eines unbedeutenden Landes auf der Konferenz gestern, der seltsamerweise mit einer einfachen Frage eine Lücke in die festbetonierten Positionen gerissen hatte.

Nein, meinte ein anderer, das war doch jener späte Gast in der Bar, der ihm so lange zugehört hatte, bis der Knoten der Trauer sich endlich gelöst hatte.

Der Mann, der da in ihrem Rücken aufgetaucht war, wurde von allen erkannt: Als jener, der eine ganze Busbesatzung bei einer Panne mitten in den Bergen zum Teilen gebracht hatte; als der  mit dem ansteckenden Lachen; als jener, der  mit ein paar Sätzen die Sehnsucht nach seiner Frau wieder geweckt hatte; als der mit der rettenden Idee für das verpatzte Festessen; als der, bei dem einer seine Angst vor den anderen verlor und den Druck, sich andauernd rechtfertigen zu müssen, als jener, als dieser, …

In der Atmosphäre über dem roten Teppich, an dessen falschem Ende der Mann aufgetaucht war, im Rücken des Empfangskomitees; in dieser Atmosphäre überschlugen sich Erinnerungen an heilende Augenblicke …

Da wandte sich der Mann zum Gehen. Ein Gefühl von Abschied ergriff das ehemalige Empfangskomitee. Als ihnen klar wurde, was sie zu verlieren drohten, kam Bewegung in sie.

„Bitte, bleib!“ rief einer und ein anderer sprach aus, was sie alle dachten: „Warum gehst du denn?“ Ein Lächeln umspielte die Lippen des so inständig Gebetenen: „Ich muss offenbar von der richtigen Seite noch einmal kommen, damit ihr mich erkennt!“

Der Bus fuhr wieder vorüber und aus einem geöffneten Fenster drang ein Choral: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit …“

Text: Stefan Ark Nitsche, Regionalbischof Nürnberg
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