Musik
Konzert in St. Sebald
Starke Töne: Heldenpreis und Totenklage

„Das Ohr wird zum Auge“ Zu Händels SAMSON

„Oratorium“ bezeichnete ursprünglich nicht den musikalischen Gattungsbegriff, sondern mit Bezug auf das „Oratorio“, den Betraum des Filippo Neri, die Lokalität der Pflege religiöser, jedoch nichtliturgischer Musik. Die Bezeichnung Oratorium erhielt die neue Gattung nach Anfängen in Rom zu Beginn des 16. Jahrhunderts erst sehr viel später. Das Oratorium, definiert als eine „auf mehrere Personen, ggfls. unter Verwendung von Chor, verteilte Vertonung einer vorwiegend geistlichen Handlung (im weitesten Sinne) zu vorwiegend nicht-szenischer Aufführung“, verarbeitet zunächst die gängigen Formen wie Laudes und Motette. Etwas später adaptiert es den Formenkanon des dramatischen weltlichen Madrigals und der frühen Oper. Der erzählende rezitative Stil, die Monodie in den dialogisierenden und die Mehrstimmigkeit in den übrigen Teilen fördern die Entwicklung hin zum „melodramma spirituale“ parallel
zur Opernentwicklung. Die Sujets liefert zunächst das Alte Testament, später treten Neues Testament und Heiligenviten dazu.
Aufführungen gab es in den Betsälen an den Freitagabenden, die als nichtliturgische Termine vor den heiligen Tagen für diese sozusagen freireligiöse Musik am besten geeignet waren. Zugleich ging die Tendenz stark zum „Oratorio volgare“, der volkstümlichen „azione sacra“ (heiligen Handlung) mit dramatischer, spannungsgeladener Aktion und endgültiger Anlehnung an die Oper mit u.a. der Adaption der Dacapo-Arie und der Erweiterung von zwei auf drei Teile.

In diesem Stadium nun tritt Händel auf den Plan. Er erhob ausgehend von der mitteldeutschen Tradition und unter dem Einfluss italienischer Faktoren wie Melodieführung,  Emotionalität und Affekte, Rezitativ und Arie, bewegte Szenen und Choreinsätzen als Träger der dramatischen Handlung das Oratorium zum nichtszenischen bürgerlichen Musiktheater, für das der SAMSON exemplarisch steht.

SAMSON war zu Händels Lebzeiten eines seiner bekanntesten oratorischen Werke, in gerade sechs Wochen hatte er im Herbst 1741 das (ungekürzt weit über drei Stunden dauernde, heute rund zweistündige) Stück geschrieben. Stoffgrundlage war das Drama „Samson Agonistes“ von John Milton aus dem Jahr 1671. Dahinter steht eine Geschichte aus dem Buch der Richter des Alten Testaments: Samson war von übermenschlicher und unbesiegbarer Stärke, die an sein ungeschorenes Haupthaar geknüpft war. So konnte er Feinde Israels besiegen. Erst als sich eine Frau aus dem Volk der Philister – Dalila – in sein Vertrauen schleicht, Samson sich in sie verliebt und ihr das Geheimnis verrät, geschieht das Unheil. Sie verrät es an die Philister, Samson wird gefangengenommen, geschoren und geblendet.

Interessanterweise lassen Milton und Händel all dies interessante und dankbare Geschehen außen vor, ja, sie setzen die Kenntnis quasi beim Hörer voraus. SAMSON setzt ein, als der Titelheld blind und versklavt ein gebrochener Mann ist. Die Feinde verhöhnen ihn, sein Freund Micah bemitleidet ihn, sein Vater Manoah trauert der Zeit nach, als er einen so strahlenden Sohn hatte. Der II. Akt weckt im niedergeschlagenen Samson neue Kraft: der Riese Harapha aus dem Volk der Philister verspottet ihn, Dalila erscheint und glaubt, ihn erneut umgarnen zu können. Er ersinnt einen kühnen Plan, weil ihm unbemerkt das Haar wieder gewachsen war: als er im Fest des Philistergottes Dagon als besiegter Feind vorgeführt werden soll, bringt er den Festsaal zum Einsturz und begräbt die Philister und sich selbst. Totenklage und Heldenpreis beschließen das Werk.

Händel zeichnet den Weg eines Mannes von tiefer Verzweiflung und Agonie über erwachenden Stolz hin zu einer letzten kraftvollen Tat, die sein Volk um den Preis der eigenen Vernichtung rettet.

Karl Friedrich Zelter schrieb 1828 an seinen Freund Goethe: „Gestern abend haben wir dem Publikum mit Händels Samson aufgewartet. Händel hat das Wesen und die letzten Stunden eines starken Mannes, der einem Weibe unterliegt, mit echter Kraft in Töne gekleidet. Das Ohr wird zum Auge, man möchte Farben unterscheiden, Gestalten, Geschlechter.“

Text: Axel Emmerling und Thomas Gropper
Bild: Archiv St. Sebald