Innenstadt
Nürnberg vor 75 Jahren
Untergang und Neuanfang

Wir wissen, dass längst nicht alles Gold ist, was in diesen 75 Jahren bei uns und durch uns geschah. Aber wir stehen zu diesem Land, zu seiner Schuld und zu dem Frieden, der von ihm ausgeht, zu seiner Schönheit und zu seiner internationalen Verantwortung. Wir lassen uns das auch nicht kaputtmachen und kaputtreden, wenn die Nazizeit und der Holocaust als „Vogelschiss“ abgetan werden, wenn die AfD der Demokratie übel mitspielt wie jetzt in Thüringen, wenn die rechtsextreme Szene Hassmails schickt, niemand von denen mehr in die Kirche geht und keiner von uns auch nur einen Schritt zu deren Demonstrationen. Die Gegensätze scheinen unüberbrückbar, die gegenseitigen Worte nutzlos und leer.

Dienstag, 2. Januar 1945, 18.30 Uhr

Nach dem Voralarm kam der Vollalarm – höchste Zeit, in die Bunker zu gehen. Alte, Mütter mit ihren Kindern, die Luftschutzwarte, Soldaten aller Rangstufen, Fremdarbeiter auch. Eine aufgeregte Menge. Was sie in der Laufer Gasse noch mitbekommen, ist das Rattern einer Kolonne von zehn, fünfzehn oder mehr Autos Richtung Osten aus der Stadt hinaus, wo es doch seit langem kein Auto, kein Benzin, keine Verpflegung mehr gab? Wahrscheinlich doch die Parteibonzen auf der Flucht, wie die Patrizier damals vor der Pest hinaus auf ihre Sommerschlösschen entschwanden.

Auf einmal von fern her das leise Surren der Bomber. Gespenstische Stille. Das Surren geht in ein Brummen und Heulen der Motoren über. Dann kommen die ersten Einschläge. Die ersten Erschütterungen. Das elektrische Licht geht aus. Dann das Inferno. Schreie der Kinder, wimmernde Gebete. Man kann die Angst förmlich riechen. Nach einer Ewigkeit, die 53 Minuten dauert, ziehen die Bombergeschwader ab, wie sie gekommen waren. Vorsichtig kriechen die Menschen aus ihren Bunkern, Kellern und Löchern. Die Altstadt – eine einzige Brandfackel. Der Himmel glüht und glänzt wie pures Gold in dieser Bombennacht. 521 Flieger haben 2.304 Tonnen Brand- und Sprengbomben abgeworfen. 1.850 Tote und unzählige Verletzte.

Aber damit nicht genug. Da warten Minen mit Spät- und Zeitzündern sowie einstürzende Mauern. Lohn der Angst, dass es dich im Aufatmen, überlebt zu haben, nicht noch auf dem Heimweg erwischt? Wo einst dein Haus stand, ist ein einziges Trümmerfeld.

Dieser schwerste, aber keineswegs letzte Luftangriff ist in Fritz Nadlers Buch „Ich sah wie Nürnberg unterging“ eindrücklich geschildert. Ob in Hamburg, Dresden oder Nürnberg – es sind Details, an die sich die letzten Zeitzeugen noch 75 Jahre danach bis ins Kleinste erinnern: Für Paula Strasser ist es „das leise Surren der Bomber“, das sie bis heute im Ohr hat. Was sich damals unausweichlich bis zum Inferno steigerte, ist für sie aber weit weg. Gott sei Dank!

Die zwölfjährige Anita John in Dresden muss die Leichen ihrer Eltern identifizieren: „Sie lagen da, als ob sie schliefen. Im Feuersturm sind sie einfach erstickt. Als mir der Mann die Eheringe meiner Eltern in die Hand gab, war das die scheußlichste Situation, die ich je erlebt habe. Da wusste ich: Jetzt biste alleene!“

Dienstag, 8. Mai 1945

Viele werden den Tag der Kapitulation und der Befreiung Deutschlands nicht als besonderes Ereignis wahrnehmen. Sie sind viel zu sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, sind am Ende, apathisch, zu erschöpft, irgendetwas zu denken und zu sagen. Es wird Jahre dauern, bis sie darüber reden.

Die anderen in den KZs und Gefängnissen können den Tag ihrer Befreiung kaum fassen. Abgemagert bis auf die Knochen, springen, humpeln, tanzen sie vor Glück. Ihr sollt in Freuden gehen, ihr sollt im Frieden ziehen, die Bäume in Auschwitz, Dachau, Flossenbürg, sie klatschen in die Hand. Viele sterben aber noch im Nachhinein an Entkräftung.

Heute sind es ihrer nur noch wenige, die aus erster Hand berichten können. Aber wie geht das zusammen, dass dieselbe Geschichte von den einen als Untergang und Niederlage, von den anderen als Befreiung und Erlösung erlebt wurde?

Genug davon

Rein äußerlich und ganz profan war es der Einmarsch der Amerikaner am 20. April 1945, der die Stadt von den Nazis befreite. Wie erging es den Menschen? Dieselben, die verstört, verschüttet und ausgebombt waren, die hörten auf einmal die Glocken von St. Lorenz. Ja, die gibt’s noch! Die wochenlang in den Bunkern verharrten, lassen sich zum ersten Mal rufen ins Frühlingsmorgensonnenlicht. Die hast du an Johanni 1945 die Gräber ihrer Toten schmücken sehen mit Veilchen und Vergissmeinnicht – zwischen Rüben, Kraut und Zwiebeln, die dort angebaut wurden. Die warten am Hauptbahnhof lange noch auf ihre kriegsgefangenen Väter und Männer. Die fangen an, 10,7 Millionen Kubikmeter Schutt aus der Stadt zu räumen. Und: „Stell dir vor, wir hätten was zu rauchen, Lucky Strike und Chesterfield …“

Ende Juni 1945 sitzen sie in der Ruine von St. Sebald, umgeben von offenen Türen, kaputten Fenstern, unter einem offenen Dach – die Sternlein schauen rein –, und sie hören, in Decken gehüllt – du glaubst es nicht –, wie „Die Schöpfung“, die Musik von Joseph Haydn, in den Abendhimmel steigt und zu Herzen geht.

Winzigkeiten entscheiden

Der Stoff, aus dem die Träume sind, aber ist knapp bemessen. Am anderen Morgen hat sich nichts geändert: Die Stadt am Boden, die Kirchen in Trümmern. Winzigkeiten entscheiden über Leben und Tod. Und das nicht nur einmal, sondern über Jahre hinweg. Winzigkeiten, die all die großen Gedanken über Krieg und Frieden in Luft auflösen. „The business is licensed – Dieses Geschäft ist zugelassen“ erfährt der junge Baurat Julius Linke am 1. September 1948 zum Betrieb des Steinbruchs am Schmausenbuck für die zerstörte Lorenzkirche. Es sei fast ein Wunder, schreibt er, dass das gewichtige Sternengewölbe des Hallenchores nicht auch noch herunterstürzt, „nachdem das Gegengewicht durch die herausgeschleuderten Seitengewölbe fehlt und die Pfeiler sich bis zu 18 cm durchbiegen. Der wichtigste Eckpfeiler steht so nurmehr gewissermaßen auf den Zehenspitzen, d.h. die kritische Fuge klafft bereits ein klein wenig auf der Innenseite und an der Außenseite ist schon eine dünne Schwarte des Steines durch die Kantenpressung abgedrückt.“

Darunter läuft der Baurat Linke – und der Krieg ist schon lange vorbei – und fürchtet immer noch, dass bald alles zusammenstürzt. Bis zum letzten Moment, bis ins Aufstellen und Einrüsten hinein: Furcht und große Freude. Nicht viel anders auf St. Egidien: In der Kirche, die am 2. Januar 1945 vollends zerstört wird, verhindert ein eingeklemmter Sandsteinquader den Einsturz des gesamten Nordturms. Erst im Herbst 1952 wird festgestellt, unter welcher Todesgefahr die Bauleute und Helfer bis dahin gearbeitet hatten. Bei aller Bemühung – wie etwa bei St. Elisabeth, bereits 1951 wieder eröffnet – war die Devise des Sebalder Pfarrers Friedrich Veit maßgeblich: Wohnraum vor Kirchenraum!

Kinderspaß im Bombentrichter

Es sei gestattet, dass ich meine erste Erinnerung an diese Zeit des Neuanfangs dazu- lege. In einem heißen Sommer Anfang der 1950er Jahre suchte meine Mutter für den dreijährigen Buben einen Platz zum Sandspielen – Sandkästen kamen erst viel später auf. Auf dem Rad fuhr sie mit mir zu einem der Bombentrichter hinten am Kanal. Tief eingegraben war feiner, weißer Sand in „des deutschen Reiches Streusandbüchse“. Meine Mutter hat sich ein wenig ausgeruht und ich bin den halben Nachmittag im Rollerfässla von oben runtergekullert und wieder rauf und wieder runter und alles war so warm und weich und der feine Sand ist überall gerieselt. Kinderspaß im Bombentrichter.

Diese Zeit war nicht immer nur schrecklich und düster. Dass im Vergleich zu Dresden und Hamburg bei uns so wenige umkamen, hat Nürnberg seinen großen Bierkellern unterhalb der Burg zu verdanken, wo Tausende Zuflucht fanden. „Nürnberg hat das Bier gerettet“– ein bisschen Galgenhumor ist mit dabei.

Es ist, als ob es gestern wär

Das ist der Boden, auf dem der heutige Wohlstand, unser Glück und Können erwachsen sind und auf dem Hoffnungen erblühen: Glückliche, schreckliche, auch traurige Erinnerungen über diese 75 Jahre hinweg. Die Menschen haben sie tief in sich gespeichert: Das leise Surren der Bomber, das Paula Strasser immer noch im Ohr hat, die Eheringe der Eltern und die zwölfjährige Anita John „Jetzt biste alleene“, die schlichten Veilchen am Grab, weil es noch lange keine Rosen und Geranien gab, Haydns „Schöpfung“ in der Ruine von St. Sebald oder das Rieseln des feinen Sandes mit Kinderspaß im Bombentrichter.

Es sind Bilder und Geschichten zum Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen. Sie halten die Erinnerung wach und damit die Nähe zu Gott im Erschrecken, in der Klage, aber auch im Lob und „Gott sei Dank“ eines neuen Anfangs. Wie es überhaupt gut täte zu erfahren, wie es Ihnen, liebe Leserinnen und Leser der Citykirche, erging. Unsere Kirchengemeinden sollten in diesen Wochen und Monaten Gelegenheit dazu bieten, denn die Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung.

Text: Heinrich Weniger
Artikelfotos: privat


Info:

St. Egidien
3. Oktober 1944 Bombardierung des Egidier Viertels
2. Januar 1945 Kirchenschiff und Chor ausgebrannt, Gewölbe eingestürzt
ab 1952 Wiederherstellung der Kirche
8. März 1959 Wiedereinweihung
1961/1962 Rekonstruktion von Gewölbe und Chor, neue Orgel

St. Elisabeth
Im August 1942 bereits schwere Treffer, insbesondere am 2. Januar 1945
Zerstörung der Kuppel noch am 16. März 1945
8. Februar 1948 Richtfest der neuen
Kirchenkuppel
23. September 1951 Wiedereinweihung

Frauenkirche
2. Januar 1945 Rundpfeiler und Gewölbe völlig zerstört
5. April 1945 Chor, Sakristei vernichtet
14. Mai 1953 Wiedereinweihung

St. Jakob
2. Januar 1945 Gewölbe in Chor und Langhaus eingestürzt
1951–1962 Instandsetzung des Chorbaus, Wiederaufbau der Außenmauern
17. Juli 1962 Wiedereinweihung

St. Martha
21. Februar 1945 Dach und Chorgewölbe beschädigt, relativ geringe Schäden
1946 wiederinstandgesetzt

St. Klara
16. März 1945 nach Luftangriff ausgebrannt, Chorgewölbe durchschlagen
1948–1953 Kirche in ihrer vorherigen Gestalt wiederaufgebaut

St. Lorenz
10. August 1943 (Tag der Zerstörung
Jerusalems) Explosion einer Luftmine im Hallenchor
2. Januar 1945 Einsturz des Langhaus-
gewölbes
1949–1955 Wiederherstellung des Langhaus- und Sternengewölbes
10. August 1952 Wiedereinweihung
1962 Rekonstruktion der Kirchenorgel

St. Sebald
3. Oktober 1944 Zerstörung des Haupt-
portals durch Sprengbombe
2. Januar 1945 schwere Bombenschäden an Ostchor, Hauptorgel zerstört
20. April 1945 (!) durch Artilleriebeschuss Brand der Türme, acht Glocken vernichtet,
Engelschor beschädigt
27. Mai 1945 erster Gottesdienst im notdürftig hergerichteten Mittelschiff
bis 1948 Wiederherstellung von Mittelschiff, südlichem Seitenschiff und Westchor
22. September 1957 Wiedereinweihung

Synagogen
10. August 1938 Abbruch der Haupt-
synagoge am Hans-Sachs-Platz auf
Anweisung Julius Streichers

9. November 1938 Zerstörung der Synagoge in der Essenweinstraße durch Brandstiftung
1984 Einweihung der Synagoge an der Johann-Priem-Straße
2010 Einweihung der Synagoge in der Regensburger Straße


Auf den Spuren verschwundener Klöster

Stadtspaziergang der Altstadtfreunde

Wo lebten und wirkten in Nürnberg einst Franziskaner, Klarissen und Kartäuser? Die Altstadtfreunde laden ein, Spuren ehemaliger Klöster in der Lorenzer Altstadt zu entdecken: ein Überrest des früheren Hochchors der Franziskanerkirche, die Klarakirche mit dem heutigen Caritas-Pirckheimer-Haus sowie Kirche und Kreuzgang der Kartäuser im Germanischen Nationalmuseum.

Die Geschichte der Nürnberger Klöster reicht zurück bis ins frühe Mittelalter, als bereits 1140 das Egidienkloster gegründet wurde. Nach und nach kamen 11 weitere Frauen- und Männnerklöster inner- und außerhalb des Befestigungsringes dazu. Im Zuge der Reformation wurden alle aufgelöst.

Samstag, 25. April

Beginn: Königstraße/Ecke Findelgasse, 10–16 Uhr, circa alle 30 Minuten. Teilnahme kostenlos, Spenden erbeten.