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Was unter die Haut geht
Was unter die Haut geht

Was geht Ihnen unter die Haut?

Wenn eine Ärztin eine Injektion „subkutan“ verabreicht, spritzt sie diese in das unter der Haut liegende Fettgewebe.

Das aber meinen wir nicht, wenn wir davon sprechen, dass uns etwas „unter die Haut“ geht. Sondern vielmehr ein Bild, eine Geschichte, eine Begegnung, ein Gedicht, ein Moment: Etwas, das uns so berührt, dass es nicht nur oberflächlich bleibt, sondern sich einbrennt. So, dass es im Herzen, im Gedächtnis bleibt. Etwas, an das wir uns nach Jahren noch erinnern – wenn auch nicht genau an die Inhalte, dann doch an das Gefühl von damals.

 

Was geht Ihnen unter die Haut?

Im Frühling durch einen sonnigen Birkenwald radeln.

Mein Lieblingssong voll aufgedreht.

In der Sebalduskirche sitzen, den Blick nach oben in das sonnendurchflutete gotische Gewölbe gerichtet – hier darf ich sein.

Mit meiner Familie gemeinsam singen.

Große Kunst und Architektur.

Eine Predigt, in der ich vorkomme. Bei der ich nicht abschweife, sondern merke: Mit diesen Worten der Bibel bin ich gemeint, das alles hat mit meinem Leben zu tun.

Nach einer anstrengenden Bergtour auf dem Gipfel stehen.

Das – und noch viel mehr – haben mir Menschen von dem erzählt, was ihnen unter die Haut geht.

 

Welcher Film hat Sie berührt, bewegt, nicht losgelassen?

Welche Minute in Ihrem Leben werden Sie nie vergessen?

Ein kleiner Junge liegt am Strand. Er sieht aus, als würde er schlafen.

Das Foto von Alan Kurdi geht im September 2015 um die Welt.

Er schläft nicht, er ist tot. Ein Flüchtlingskind, von den Wellen an den Strand gespült.

Wie ein Stück Treibholz.

Wer dieses Bild gesehen hat, vergisst es nicht. „Das darf nicht sein!“, denken wir. Ein Kind muss leben und soll nicht ertrinken. Der nächste Gedanke: Und wenn es mein Kind wäre? Nicht irgendein fremdes aus einem fernen Land? Nicht auszudenken – und schon schiebt man den Gedanken weg. Uns trifft so was nicht, hoffentlich nicht …

Sebastião Salgado ist ein brasilianischer Fotograf. Ihm wird dieses Jahr der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen.

Seine Bilder gehen unter die Haut.

Mit genauem Blick nimmt er das Leben und oft das Leiden von Menschen in den Blick. Fremde Personen, denen wir niemals begegnet sind, schauen uns auf einmal in die Augen. Menschen, die unmenschliche Arbeit verrichten müssen.

Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen.

Menschen wie Sie und ich – eigentlich weit weg von uns und in den Fotos doch plötzlich ganz nah.

Mir gehen seine Bilder unter die Haut. Immer wieder überlege ich, wie mein Leben aussähe,
hätte ich nicht das Glück, in einem freien, sicheren, wohlhabenden Land geboren worden zu sein.

 

Berührungen geschehen auf unserer Haut.

Manchmal aber gehen sie unter die Haut, sind zärtlich, innig, heilend.

Eine Frau hat seit bald 20 Jahren eine Wirbelsäulenverkrümmung, so heftig, dass sie überhaupt nicht mehr aufrecht stehen kann und den Blick nicht mehr nach vorn, geschweige denn oben richten kann. Schrecklich.

Was ihr unter die Haut geht, ist eine Berührung von Jesus: „Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!“, sagt er, und legt die Hände

auf sie.Lukas erzählt in seinem Evangelium: „Sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.“ Ich war nicht dabei. Aber ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie diese Berührung, diese Worte unter die Haut gehen: nicht nur der Frau selbst, sondern auch allen, die das miterleben.

Leben und Tod, Angst und Freude: Starke Gefühle gehen unter die Haut.

An den Moment der Krebsdiagnose, an den Augenblick, als eine Todesnachricht kam – daran erinnert man sich.

Das Gefühl, sein Kind zum ersten Mal in den Armen zu halten, der erste Kuss – das vergisst man nicht. Ein „Ich liebe Dich“, ein herzlicher Blick, eine Umarmung.

Eine Melodie, ein Liedtext, ein Segen.

Ein gutes Gespräch, jemand, der mich tröstet.

Es sind die wesentlichen Dinge des Lebens, die uns unter die Haut gehen. Und es sind meist Momente, die uns unverhofft begegnen. Die wir nicht kaufen können, die wir nicht machen können. Die uns geschenkt werden, oft als Glaube, Liebe, Hoffnung.

Ein Sonnenstrahl am Grab des geliebten Menschen auf dem Friedhof – für andere mag es kitschig klingen. Wer ihn erlebt, bekommt eine Gänsehaut.

 

Christen sagen: Unser Leben verdanken wir nicht uns selbst.

Woher wir kommen, wohin wir gehen, wozu wir leben – das alles liegt in Gottes Hand.

Die kleinen und großen Momente des Lebens bewusst wahrnehmen, auch das geht unter die Haut.

Dankbar sein für seine Freunde, Gesundheit genießen, Liebe weitergeben, das schafft Glück. Und Glück ist immer „subkutan“, unter der Haut.

 

Text und Artikelfoto: Annette Lichtenfeld