Interview
Weihnachtliche Emotionen

 

 

 

Die „Offene Tür – Cityseelsorge an St. Jakob“ ist ein Seelsorge-, Lebens- und Krisenberatungsangebot der Evangelischen Kirche für alle, die in der Nürnberger Innenstadt unterwegs sind, dort arbeiten oder leben.

Pfarrerin Barbara Hauck ist Leiterin dieser Beratungsstelle. Besonders im Advent suchen viele Menschen dort ein Gespräch…

Frau Hauck, in Ihrer Beratungsstelle ist viel los. Zur Zeit sicherlich besonders viel. Denn in der Weihnachtszeit geht es emotional hoch her…
Ja, und dabei geht es weniger um die äußeren Eindrücke, die Weihnachtslieder, die verspielte Deko… Viele weihnachtliche Symbole und Geschichten wecken ja die Sehnsucht, wieder Kind zu sein. Nicht unbedingt das Kind, das man einmal war, sondern ein Kind, das im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht, gehalten, geborgen, beschenkt – ein einzigartiges, ganz besonderes Kind. Das ist natürlich ein enormer Kontrast zur Realität. Denn vielleicht habe ich als Kind ja diese Aufmerksamkeit nie wirklich erlebt, weil meine Eltern völlig überfordert waren. Vielleicht spüre ich aber auch als Erwachsene, dass ich mich ganz kindlich danach sehne, von meinen Eltern (oder meinem Partner oder meinen Kindern) jetzt diese Zuwendung zu bekommen. Aber die wollen nicht oder können das nicht. Vielleicht spüre ich ja, dass meine Kinder diese Aufmerksamkeit bräuchten und merke zugleich, dass ich’s oft nicht schaffe. Und dazu kommt noch, dass in der Realität der Nachrichten und der Weltlage deutlich wird, wie wenig „weihnachtlich“ die Welt für die allermeisten Kinder ist. Und diesen Kontrast innerlich auszuhalten, das ist schon mal ziemlich anstrengend.

Fast alle Kinder freuen sich wochenlang auf Weihnachten, bei den meisten Erwachsenen sieht das durchaus anders aus, oder?
Ja, Erwachsene tun sich oft schwer mit dieser Vorfreude. Nicht nur, weil Weihnachten eine Zeit ist, in der meist noch viel zusätzlich zu erledigen ist. Weil der Druck groß ist, ein schönes Weihnachtsfest für die Familie zu gestalten oder mehrere Weihnachtsfeste mit unterschiedlichen Familienmitgliedern erwartet werden. Weil die Unsicherheit da ist, wie das denn wird und ob man alle Erwartungen erfüllen kann, sondern auch, weil man sich die eigenen zwiespältigen Gefühle und Erinnerungen innerlich ein bißchen vom Leib halten muß.

Zu Ihnen kommen sicherlich auch viele Menschen, die sich wünschen: Ach, könnten wir Weihnachten doch einfach ausfallen lassen!
Manche sagen: Ich bin ja sowieso alleine; andere haben in diesem Jahr so viel Schweres und Trauriges erlebt, daß ihnen gar nicht weihnachtlich zumute ist. Oder es graut ihnen davor, dass mit der „lieben Familie“ auch alle ausgesprochenen und unausgesprochenen Familienkonflikte, mit am Weihnachtstisch sitzen. Wieder anderen hängt der Kitsch und Kommerz zum Hals heraus und sie verweigern sich am liebsten der ganzen Feierei.

Mir hilft da ein Blick in die biblische Weihnachtsgeschichte. Da ist ja keine heilige, heile Familie, die gemeinsam im Kerzenschein unterm Tannenbaum sitzt, sondern eine kleine, zerbrechliche Gemeinschaft auf Zeit. Eine junge Frau, die sich ihr Leben ganz anders vorgestellt hat, ein Mann, der sich um seine schwangere Verlobte kümmert, obwohl er weiß, dass er nicht der Vater ist. Eine provisorische Unterkunft für die Geburt, ein schneller Aufbruch, weil das Kind von Anfang an bedroht ist… Da ist viel Unsicherheit und Ungeborgenheit. Womöglich wird ja auch dann „Weihnachten“, wenn es nur ein einziges Wort, ein einziges Lied gibt in dieser Zeit, das mich wirklich berührt. Wenn es nur einen Menschen gibt, mit dem ich so ein kleines Sorge-Bündnis auf Zeit eingehen kann. Wer sagt denn, dass Weihnachten überall gleich gefeiert werden muß. Jeder und jede erlebt sein und ihr eigenes, ganz persönliches Weihnachten. Womöglich findet Weihnachten ja statt, wenn ich mit der Nachbarin, die auch alleine lebt, am 2. Weihnachtstag Kaffee trinke oder wenn alle aus der Familie wieder weg sind und ich endlich Zeit habe, in Ruhe das Buch zu lesen, auf das ich mich so gefreut habe. Oder wenn ich aus dem überfüllten Christnachtsgottesdienst ins Freie trete… es gibt viele Weihnachtsfeste.

Und was tun, wenn alles daneben geht: Die Bescherung, das Familientreffen, das erhoffte friedliche Zusammensein?
Am besten ist, wenn man schon im Vorfeld was tut: Man kann zum Beispiel rechtzeitig miteinander reden, wie Weihnachten dieses Jahr gefeiert werden soll. Und man kann sich selbst fragen: Was brauche ich denn dieses Jahr an Weihnachten wirklich – und die eigenen Erwartungen nicht zu hoch hängen: Nicht jedes Geschenk wird ein Volltreffer werden, nicht jeder Beschenkte wird merken, wie viele Gedanken ich mir gemacht habe. Dass eine zerstrittene Familie ausgerechnet an Weihnachten ihre Liebe zueinander wieder entdeckt, ist auch nicht anzunehmen. Also vielleicht nicht gemeinsam feiern, wenn einem nicht danach zumute ist; dafür sorgen, dass es genügend Freiraum gibt für einzelne; sich von der Erwartung, dass alles perfekt sein muß, verabschieden; sich erlauben, dass man sich auch an Weihnachten mal zurückziehen und sich auch traurig und melancholisch fühlen darf. Ich glaube, das Allerwichtigste ist, sich selbst zu erlauben, dass Raum und Zeit sein kann für die ganze Bandbreite der Gefühle, die Weihnachten in einem wecken kann: Sehnsucht, Freude, Geborgenheit, aber auch Trauer, Schmerz und Enttäuschungen.

Interview: Annette Lichtenfeld
Fotos: Madame Privé

Info: Barbara Hauck leitet die
Beratungsstelle „Offene Tür –
Cityseelsorge an St.Jakob“