Themenartikel
Weniger ist mehr
Weniger ist mehr

Nie zuvor haben so viele Menschen so viel besessen: Zugestellte Wohnungen, vollgestopfte Kleiderschränke, überfüllte Kellerabteile. All das entwickelt sich zur Last und weckt Sehnsucht nach Einfachheit und Klarheit.  

Ist weniger tatsächlich mehr?

Die Sehnsucht nach einem einfacheren Leben kenne ich sehr gut. Weniger Dinge, weniger Bedürfnisse, dafür mehr Natur, mehr Zeit, Konzentration auf das Wesentliche – das wäre schön. „Wer wenig besitzt, wird umso weniger besessen“, sagte schon Friedrich Nietzsche, und das steht so oder ähnlich auch in zahllosen Minimalismus-,  Feng-Shui-,  und Entrümpelungs-Zeitschriften. Weniger ist also mehr: Weniger Nippes im Regal, weniger Schokolade und Kartoffelchips im Bauch, weniger Gedaddel am Handy.

Und dann kam Corona.

Und alles wurde weniger. Immer weniger. Kontakte, Feste, Essengehen, Konzerte, Sport, Kultur, Urlaube, Feiern, Besuche, Einladungen, Veranstaltungen. Die Reihe lässt sich beliebig erweitern.

Weniger ist mehr? Gilt das auch hier?

Weniger Arbeit haben manche Menschen gehabt. Sie haben die freie Zeit genossen. 

Weniger Geld ist bei manchen aufs Konto geflossen. Das hat zu existenziellen Ängsten geführt. Weniger Menschen haben die meisten um sich gehabt. Viele halten die Einsamkeit seit Monaten kaum aus.

Weniger ist nicht immer mehr. Weniger kann manchmal auch zu wenig, viel zu wenig sein. 

„Weniger ist leer“: Seit Jahren gibt es dieses Plakatmotiv von Brot für die Welt: Darauf ist eine fast leere Reisschale zu sehen. Von wegen „weniger ist mehr“.

Weniger haben und weniger tun führt in jedem Falle aber zum Nachdenken: Was ist mir wirklich wichtig? Was brauche ich unbedingt zum Leben? Worauf kann und will ich keinesfalls verzichten? Die Antworten auf diese Fragen fallen unterschiedlich aus, so unterschiedlich, wie wir Menschen nun einmal sind und denken. 

Mir ist im letzten Jahr noch einmal sehr klar geworden: Mit weniger Dingen kann ich gut leben. Mit weniger Freundschaft nicht. 

Gute Kontakte und alte Freundschaften haben sich in der Krise intensiviert und bewährt. Der Spaziergang mit einer Freundin, das Telefonat mit einem alten Freund ist in diesen Zeiten noch kostbarer als sonst. Aber Freundschaft will gepflegt sein. Weniger ist in der Beziehungspflege nicht unbedingt mehr.

Und noch eines ist mir klar geworden: Mit weniger Vertrauen und Zuversicht kann und will ich nicht leben. Wie eine Dunstglocke der Ungewissheit und Angst liegt die Pandemie über allen und allem. Da kann man schon mal düstere Gedanken entwickeln. Oder aber neu Vertrauen lernen: Trotz und in allem sind wir nicht allein. Gottes Hand hält diese Welt, trotz allem. Weniger Vertrauen – das geht gar nicht!

Text: Annette Lichtenfeld
Artikelfoto: iStockphoto.com