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Blumen blühen auf.
Wenn Menschen aufblühen

Blumen blühen auf. Das gehört zu ihrer Natur, es geschieht wie von selbst: Eine Knospe entsteht und wächst und wird größer und dann öffnet sie sich nach und nach zur vollen Blüte. 

Können Menschen auch aufblühen? Geschieht das auch wie von selbst?

Menschen werden geboren, reifen dann vom Säugling zum Kind, von der Jugend über die Lebensmitte bis zum Alter – und sterben. Das ist der Lauf der Dinge, wenn alles gut geht. 

Aber nicht immer geht alles gut. In fast jedem Leben gibt es Brüche, Krisen oder Verluste. 

Dann fühlt man sich wie verdorrt, wie erstarrt, ohne Saft und Kraft. Und hat das Gefühl: Das Leben außen um mich herum geht weiter, aber an mir geht es vorüber. 

Dabei muss es nicht bleiben, Gott sei Dank. Die meisten Menschen finden Wege aus ihrer schweren Krise. Und leben danach anders als vorher. „Ich kann wieder blühen“, sagt mir eine Frau nach schweren Jahren. Und sie ist sichtlich aufgeblüht, auch äußerlich. Eine Freude, das miterleben zu dürfen. 

Aufblühen nach Zeiten der Dürre, das gibt es immer wieder. Ich kenne Menschen, die das erlebt haben.

Alexander* ist heute 28. Leicht hatte er es nicht als Jugendlicher. Seine Eltern haben ihn zwar nach Kräften unterstützt, aber in der Schule ging es ihm nicht gut. Lernen war nicht „sein Ding“ und Freunde hatte er nur wenige. Dann begann die Abwärtsspirale: Schlechte Noten, sitzen bleiben, keine Lust mehr auf Schule. Mit Ach und Krach bekam er irgendwann den Mittleren Schulabschluss hin – aber das war es dann auch. Eine Lehre im Bereich Technik brach er nach einem Jahr ab. Und begann im Einzelhandel. Seinem Chef war er zu unzuverlässig – ihm wurde gekündigt. Fast zwei Jahre lebte er nur in den Tag hinein, ohne Perspektive. Seine Eltern verzweifelten. 

Dann passierte ein Wunder. Mit den Eltern fuhr Alexander für eine Woche Urlaub in ein Hotel im Bayerischen Wald. Aufmerksam beobachtete er das Geschehen an der Rezeption, im Restaurant und im gesamten Hotelbetrieb. Er fasste sich ein Herz und sprach den Besitzer an, ob er hier eine Ausbildung anfangen könne. Nach einem längeren Gespräch sagte dieser zu. 

Alexander steht mittlerweile kurz vor der Abschlussprüfung. Er ist wie verwandelt. Die Ausbildung begeistert ihn. Mit den Mitarbeitenden im Hotel und den Gästen versteht er sich blendend. Und eine Zusage für den Arbeitsplatz nach der Prüfung hat er schon – trotz Corona! Wer ihm begegnet, sieht einen glücklichen jungen Mann. Wie aufgeblüht. Alexander hat „sein Ding“ gefunden, wie er selber sagt. Und strahlt.

Barbara* hat ihren Mann über fünf Jahre lang gepflegt. Mit 55 Jahren hatte er einen Schlaganfall bekommen, aus heiterem Himmel. Sie kündigte ihre Arbeitsstelle und war ganz für ihn da. Kaum etwas anderes gab es in diesen Jahren noch für sie, Tag und Nacht war sie für ihren geliebten Mann da. Keine Zeit blieb für Freunde oder Hobbys. Als er dann starb, war sie untröstlich und vergrub sich immer mehr in ihrer Wohnung und in ihrer Einsamkeit. Wenn frühere Freundinnen mit ihr spazieren gehen wollten, lehnte sie ab. Als ihr Sohn vorschlug, nach Norddeutschland zu ziehen, um in seiner Nähe zu leben, wollte sie nicht. Schließlich fasste sie Mut und besuchte eine Trauergruppe. Nach und nach öffnete sie sich und lernte, über ihre Trauer und Einsamkeit zu sprechen. Und lernte auch, den anderen zuzuhören und zu erfahren, wie sie mit ihrer Trauer leben und wie sie die Trauer überwinden. 

Diese Gespräche gaben ihr Kraft. Barbara fasste neuen Lebensmut. Drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes traf sie dann den Entschluss: Ich beginne noch einmal etwas Neues. Der Umzug nach Norddeutschland war ein großer Einschnitt. Im Rückblick sagt sie: Diese Entscheidung hat mein Leben gerettet. Ich habe die schweren Jahre hinter mir gelassen und auch die Stadt, wo mich jeder Schritt und Tritt an meinen Mann erinnert. In ihrem neuen Leben hat sie erstaunlich schnell Fuß gefasst. Jede Woche hat sie ihre beiden Enkelkinder einen Tag bei sich. Im neuen Haus hat sie sehr schnell Kontakt zu anderen Mitbewohnerinnen gefunden und sich auch schon einer Wandergruppe angeschlossen. Barbara ist aufgeblüht. Sie wirkt viel jünger, obwohl sie schon auf die 70 zugeht. Letzte Woche hat sie sich ein E-Bike gekauft. Der Sommer kann kommen, sagt sie.

* Namen von der Redaktion geändert.

 

Text: Annette Lichtenfeld
Artikelfoto: iStockphoto.com