Innenstadt
von Michael Stößlein
Wie baut die Stadt?

Meine ersten Erinnerungen an den Stadtraum in Nürnberg stammen aus den späten siebziger Jahren. Es war die Zeit, in der ich als Jugendlicher die Stadt erobern wollte ohne Geld auszugeben, Kneipen und Kaufhäuser schieden deswegen aus.   Zum Glück gab es einen Platz, der untypisch war für das Leben in der Stadt zu dieser Zeit und der wurde das Ziel meiner Ausflüge! Restaurants hatten damals Gärten, Cafés Terrassen. Straßenbestuhlung war unüblich, das gab es gerade mal beim „Roma“ an der Museumsbrücke. In den Straßen drängten sich Menschen, Autos, Straßenbahnen, verkehrsfreie Zonen existierten nicht. Lediglich der Platz am Tiergärtnertor war autofrei und hatte dieses magische Flair des „Möglichkeitsraumes“: da konnte ich sitzen, schauen, reden oder auch ein Bier trinken – ganz ohne Zwang und völlig frei, Stadt-Leben! Später erst wurde mir aufgrund meiner beruflichen Beschäftigung klar, welche Bedeutung dieser öffentliche Raum schon damals hatte: Der Freiraum ist wesentlich für unser Zusammenleben. Ohne den Freiraum, den die Menschen füllen und beleben, funktioniert die europäische Stadt nicht.   Bereits im Jahr 1950 hatte der Nürnberger Stadtrat in den Leitsätzen zum Wiederaufbau festgestellt und beschlossen: „Die Altstadt ist vom Durchgangsverkehr freizuhalten.“ Tatsächlich war die Stadt knapp 30 Jahre später – zu der Zeit, in der ich den Platz am Tiergärtnertor entdeckte – weit entfernt von diesem Ziel. Umgesetzt wurde es erst zirka zehn Jahre später: zusammen mit der Fußgängerzone entstanden die vier Verkehrsquadranten, die Sperrung der öffentlichen PKW-Durchfahrten in Nord-Süd und Ost-West Richtung.  Aber geht es lediglich um den Durchgangsverkehr? Und hat der Verkehr nach der Sperrung abgenommen? Neben den unzähligen Stellplätzen in den Straßen und auf den Plätzen der Innenstadt gibt es heute im Stadtzentrum vierzehn öffentliche Parkhäuser oder Tiefgaragen mit insgesamt ca. 4.200 Stellplätzen. Jede dieser Einrichtungen deckt innerhalb der Stadtmauer eine Fläche von weniger als 350 x 350 m ab. Vom Hauptbahnhof zur Burg beträgt die Entfernung ca. 1.200 m, wäre das die Parkfläche, die in den Häusern angeboten wird: die 4.200 PKW würden auf dieser Strecke in 18 Reihen nebeneinander Stange an Stange stehen.   Automobiler Verkehr wird nach wie vor angezogen, nicht verhindert! Das Bild der Stadt heute, mehr als 40 Jahre nach den Abenden auf dem Platz am Tiergärtnertor: der private PKW beherrscht die Stadt. Rund um die Fußgängerzone drängt die individuelle PKW Mobilität in den Stadtraum, rücksichtslos und verbissen – Tempo 30? Lächerlich! Im integrierten Stadtentwicklungskonzept aus dem Jahr 2012 steht zu lesen: „Zwei von drei Nürnbergern nutzen heute die öffentlichen Verkehrsangebote, das Rad oder gehen zu Fuß, um für den Einkauf in die Altstadt zu gelangen.“ Meine Wahrnehmung ist das nicht. Auch wenn sich das Leben in die öffentlichen Räume verlagert hat, die Straßenräume inzwischen betischt und bestuhlt sind – wir Menschen in der Stadt, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, werden dominiert von Mobilisten, die von Modelljahr zu Modelljahr immer mehr Fläche beanspruchen. Ein SUV belegt ca. 12 m2 Fläche – Raum auf dem mehr als 12 Menschen an Cafétischen das Stadtleben erleben könnten.   Der Egidienplatz steht für den Zustand der Stadt heute: ein Stadtraum, der bereits bei Camillo Sitte, dem Stadttheoretiker des 19. Jahrhunderts Erwähnung fand, ein Ort, der die Geschichte Nürnbergs erzählt: die Egidienkirche, die in der Stadt einzigartige Barockkirche, die Urzelle des Melanchthon-Gymnasiums südlich davon, die Westzeile als Zeichen des Wiederaufbaus, die frühere Stadtbibliothek auf den Resten des Pellerhauses, das intelligente Beispiel des Weiterbauens anstatt des geschichtsverweigernden Rekonstruierens. Und auf dem Platz: PKW Müll.   Ich plädiere für den radikalen Schnitt, die Stadtstruktur Nürnbergs ermöglicht diesen ohne große Aufwendungen: ein Mautsystem regelt die Zufahrt in die Stadt, gestaffelte Gebühren verteuern die Einfahrt nach Notwendigkeit. In London funktioniert das seit Jahren. Mittelfristig soll das Zentrum für den fossilen Brennstoff verbrauchenden Individualverkehr ganz gesperrt werden. Fußgänger, Radfahrer, E-Biker und citytaugliche Kleinst-E-Wägen teilen sich den so gewonnenen Freiraum mit all den Facetten, die das Stadtleben hervorbringt: Kultur, Kommunikation, Kommerz. Meine Vision vom Zusammenleben in einer Kulturhauptstadt.

 

Text: Michael Stößlein

Fotos aus der Publikation: „Der Egidienberg früher, heute, morgen …?“ Herausgeber: Technische Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm, Fakultät Architektur / Stadt Nürnberg / privat

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Über den Autor

Prof. Michael Stößlein (geb. 1958), ist Architekt und Stadtplaner. Seit 2003 hält er eine Professur an der Technischen Hochschule Nürnberg, Fakultät Architektur, inne. Seit 2014 ist er Mitglied des Kuratoriums der Evangelischen Stadtakademie in Nürnberg.

 

Aktuelles zum Thema

Es tut sich was am Egidienberg: Vom 21. bis 27. Juni wird der Egidienplatz autofrei und nach dem Fernsehgottesdienst am 24. Juni bei einem Platzfest erlebbar sein. In dem Zeitraum wird auch die Ausstellung des Studentenprojektes zur Platzgeschichte und -entwürfen erneut zu sehen sein. Die Container und Radständer am Fuß des Egidienberges sind gewichen. An ihrer Stelle wird in den nächsten Wochen das liegende Nashorn der Krakauer Künstlerin Dorota Hadrian seinen Platz als neuer künstlerischer Akzent und auch als Gegenstück zum Reiterstandbild Kaiser Wilhelm I. finden.