Innenstadt
Freiheit wählen
Wie frei bin ich wirklich?

Gleich zweimal werden die evangelisch-lutherischen Mitchristen im Oktober an die Wahlurnen gerufen – es gilt, einen neuen Bayerischen Landtag zu wählen sowie viele Kirchenvorstände im Freistaat.

Freie Wahlen in einer freiheitlichen Demokratie: Ist uns noch bewusst, wie mühsam sie erkämpft wurde und wie sehr sie heute wohl mehr denn je geschützt, ja verteidigt werden muss? Freiheit – eines der wichtigsten Güter, unendlich wertvoll. Erst wenn sie eingeschränkt oder geraubt wird, erkennen wir sie in ihrer grundlegenden Bedeutung für ein offenes, souveränes, weites Leben.

 

Wie frei bin ich aber wirklich? Das war ein entscheidender Streitpunkt zwischen Erasmus von Rotterdam (1464/69–1536) und Martin Luther (1483–1546). Der niederländische Humanist veröffentlicht 1524 die kurze Schrift „Vom unfreien Willen“: Der Mensch kann frei über sich verfügen, die Gebote Gottes befolgen, zwischen Gut und Böse unterscheiden und entsprechend handeln – sonst wäre er eine Marionette in der Hand des Schöpfers. Der Wittenberger Reformator kontert ein Jahr darauf entschieden, indem er schreibt: Der Wille des Menschen ist ein irrationaler Abgrund – der Mensch ist viel eher Getriebener als Treibender. Aus sich selbst heraus kann er nichts Gutes wollen, deshalb muss ihm alles an der Gnade Gottes gelegen sein: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ Wer einen freien Menschenwillen postuliere, täusche sich über die eigene Natur und beschädige die Majestät der göttlichen Gnade. Gott sorge durch Christus für die innere, geistliche Befreiung des Menschen von der Angst um sich selbst, die ihn auch in Leid und Not nicht verzweifeln lässt. Erasmus war erwartungsgemäß von der Antwortschrift Luthers „Über den unfreien Willen“ nicht gerade begeistert und sah darin eine erschreckende Verletzung der Menschenwürde.

Wahrscheinlich wird die knifflige Frage, ob der Mensch einen freien Willen habe, nie zufriedenstellend beantwortet werden. Wann weiß ich denn mit absoluter Sicherheit, ob mich der Teufel reitet oder ein Engel führt?

Es war Viktor Frankl (1905–1997), Überlebender von Auschwitz, der nach dem Krieg die „Logo-Therapie“ begründete und darin Begriffe wie Freiheit, Schicksal und sogar „Vorsehung“ ausführlich erklärt. Was ein Mensch gegenwärtig nicht in der Hand hat und nicht ändern kann, Gutes wie Böses, bezeichnet Frankl als „Schicksal“: Dazu gehören die eigene Vergangenheit, Aussehen, Statur, Gesundheitszustand, Alter, Geschlecht, Talente oder Defizite – und all das, was andere einem antun. Dadurch erscheint der persönliche Freiraum ziemlich eingeschränkt. Und doch ist der Mensch frei auf zweifache Weise: frei in seinen Handlungen und in seinen Haltungen, mit denen er auf die „Schicksalsfaktoren“ antwortet. Zu seiner Freiheit zählt außerdem, was er unternimmt oder nicht unternimmt, und welche innere Einstellung er zum schicksalhaft Gegebenen wählt – Frankl nennt es den „Antwortcharakter des menschlichen Daseins“. Alles Nicht-Änderbare sei als eine Frage des Lebens an uns zu verstehen – und wir „antworten“ auf diese Frage „in der Tat“ und „in der Seele“. Ob wir einer Situation positiv oder negativ gegenüberstehen, hängt von unserer inneren Freiheit ab – und da kommt Gott ins Spiel, der uns im Glauben (innerlich) so frei macht, dass es auch äußerlich spürbar wird. Frankl spricht von einem „Mysterium“: „Da unsere Entscheidungen letzten Endes frei sind, können sie unmöglich von irgendwelchen Determinanten zur Gänze bestimmt und von ihnen her erklärt werden, ohne einen unerklärlichen Rest, der eben ein Mysterium bleibt. Und gäbe es das Mysterium nicht, so wären wir weder frei noch verantwortlich.“

Und eben dieses „Mysterium Vorsehung“ umschreibt das Bekenntnisbuch der ev.-reformierten Kirche, der Heidelberger Katechismus von 1563 in zwei seiner insgesamt 129 Fragen: (27) „Was verstehst du unter Gottes Vorsehung? Die allmächtige und überall gegenwärtige Kraft Gottes, durch die er Himmel und Erde mit allen Geschöpfen wie durch seine Hand erhält und regiert; denn Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre, Essen und Trinken, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut und alles andere wird uns nicht durch Zufall, sondern von Gottes väterlicher Hand zuteil.“

(28) „Was nützt uns die Erkenntnis von Gottes Schöpfung und Vorsehung? Wir sollen in allem Unglück geduldig, im Glück dankbar und im Blick auf die Zukunft voller Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater sein; denn nichts wird uns von seiner Liebe scheiden, weil alle Geschöpfe so in seiner Hand sind, dass sie sich ohne seinen Willen weder regen noch bewegen können.“

Ich denke, solch einem Bekenntnis könnten auch der Christ Martin Luther und der Jude Viktor Frankl getrost zustimmen – und wir vielleicht auch. Freiheit erfahre ich in der Bindung an das „Mysterium“ – eine unerhörte Freiheit, die sich im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen äußert. „Herr, du bist Richter! Du nur kannst befreien, wenn du uns freisprichst, dann ist Freiheit da. Freiheit, sie gilt für Menschen, Völker, Rassen, so weit wie deine Liebe uns ergreift.“ (EG 638,4).

Im Blick auf die beiden anstehenden „Urnengänge“ gebe ich Peter Ustinov recht, der gesagt haben soll: „Wahlen sind etwas Wunderbares, da haben sogar Schlagersänger eine Stimme.“

 

Text: Pfarrer Dieter Krabbe, Ev.-reformierte Gemeinde St. Martha

Über den Autor

Dieter Krabbe ist Pfarrer der Ev.-reformierten Gemeinde St. Martha in Nürnberg. Er engagiert sich in der Ökumene und ist als Gastprediger regelmäßig auch in St. Sebald zu hören.