Kultur
Andacht
Wie viel muss ich von einem Menschen kennen?

Ist das ein Bild vom Kirchentag? Das Leben geht drunter und drüber, aber der Mensch wird klar sichtbar?

Ich freue mich ja riesig auf den Kirchentag; seit 30 Jahren bin ich regelmäßig dabei. Und ich freue mich auf dieses Großevent: spannende Diskussionen zu Glaube und Politik, dazu das Feiern, die großartigen Konzerte uvm.

Doch da meldet sich eine Stimme in mir: „Aber Kirchentag muss doch viel mehr sein als ein Event! Kirchentag muss Menschen etwas geben fürs Leben; etwas, das das Leben wertvoll macht. Kirchentag braucht die Nachhaltigkeit für das Leben – hier und weltweit – und für die Ewigkeit.“

Was also sollen die Menschen sagen, wenn der Kirchentag in Nürnberg vorbei ist? 

Was möchten Sie sagen, wenn der Kirchentag in Nürnberg vorbei ist?

„Schön war’s!“ Und wenn dann die Menschen noch nach Jahrzehnten mit leuchtenden Augen davon erzählen – wie vom 79iger-Kirchentag in Nürnberg – dann ist alles perfekt. 

Oder sollen sie sagen: „Es waren begeisternde Tage. Ich habe entdeckt, wie spannend Kirche ist und wie interessant der Glaube; wie sinnhaft dieser Weg.“ Oder: „Der Kirchentag war ganz nah dran an den Menschen – auch an denen, die im Leben zu kurz kommen – hier und weltweit.“ „Er hat die Wege für die Klimapolitik gebahnt, Wege gegen die Armut; und er hat nicht nur geredet, sondern wirklich ein paar Dinge verbessert.“

„Gott, was möchtest du sagen, wenn der Kirchentag in Nürnberg vorbei ist?“ 

Vielleicht möchte Gott dann sagen: „Sie haben mir und den anderen ins Gesicht geschaut. Sie werden mir auch morgen ins Gesicht schauen und den anderen auch. Und – sie wagen mutig neue Schritte in ihrem Leben mit mir und mit den anderen.“

Ich würde den anderen Menschen ja gerne ins Gesicht schauen, aber ich sehe da oft so wenig von ihnen.

Genauso bei Gott: Gott, ich würde dir ja gerne ins Gesicht schauen, aber da ist so viel verborgen; im Schatten. Wie viel muss ich von einem Menschen kennen, um ihm zu vertrauen? Wie viel von Gott?

Was passiert, wenn ich bei den Bildern die dunklen Stellen beleuchte? Muss das sein? Muss ich bei Gott den Schleier wegreißen? 

Da sagt einer über das Verhältnis zu seiner gerade verstorbenen Mutter: „Sie hat manches an mir nicht verstanden. Ich habe auch so manches an ihr nicht verstanden. Aber wir haben uns geliebt. Und das genügt.“

Wenn ich weiß, dass der andere mir gut ist, muss ich nicht jeden Schleier wegreißen; nicht jeden Schatten wegbelichten; wenn ich weiß, dass Gott mir gut ist, kann ich auch Fragen aushalten, die den verborgenen Bereich betreffen, z. B.: „Was tust du, Gott, während der Pandemie?“; kann ich mich auch von dem Unverfügbaren eines Tages überraschen – und sogar bereichern lassen – und ihm trotzdem vertrauen.

Wenn ich weiß, dass genug Bergendes da ist, kann ich mich auch auf die einlassen, deren Schatten mich fordern, herausfordern, vielleicht sogar ängstigen.

Und nun ich: Was möchte ich sagen, wenn der Kirchentag in Nürnberg vorbei ist? 

„Wir haben uns herausfordern lassen, von Menschen, die sonst nicht so in unserem Gesichtsfeld stehen. Wir haben uns herausfordern lassen von Gott – und den Seiten Gottes, die wir sonst schnell aus dem Licht rücken oder im Dunkeln lassen.“

Was möchte ich sagen (und beten), wenn der Kirchentag in Nürnberg vorbei ist: 

Ich träume rot

Ich träume Leben

volles Leben

Liebe

Leidenschaft

ich träume

von Menschen, die sich wagen

nichts bleibt blutleer

nichts dümpelt vor sich hin

nichts unversucht

Herzschmerz einkalkuliert

„Keine Zeit“ wird zum Unwort des Tages

Zifferblätter brechen auf

die Zeiger haben ihren Kreislauf verlassen

neues Rot greifbar

denn in dir

ist Leben und volles Genüge

viel mehr als ein Traum

jetzt und in Ewigkeit. 

Amen.

Text: Jürgen Körnlein
Artikelfotos: privat