Themenartikel
Einsichten und Ausblicke einer Ordensschwester
Zeit der Sehnsucht

Gerade in den Corona-Zeiten finden sich auf Websites großer Nachrichtenportale immer wieder Berichte aus Klöstern. Die Ordensgeschwister werden dann zumeist gefragt, wie sie mit Rückzug umgehen – schließlich seien sie doch Expertinnen und Experten dafür, in aller Abgeschlossenheit allein mit sich und natürlich auch mit Gott Umgang zu haben, ohne daran zu zerbrechen.

Eine eigenartige Faszination liegt über diesen Artikeln, die andeuten, dass Zeiten der Quarantäne und des erzwungenen Rückzugs zu bewältigen sind – aber: Besonders gut kämen da wohl diejenigen durch, die etwas eigenartig erscheinen. Genau dies seien eben die Ordensmenschen, hätten diese sich doch bewusst für eine Lebensform entschieden, die regelrecht aus der Zeit zu fallen scheint.

Aber da schwingt immer auch Faszination mit: Haben Ordensmenschen nicht permanent mit der Frage zu tun, was im Leben wirklich wichtig ist? Und zeigt ihr Verzicht auf Ehe, Geld und ein weitgehend selbstbestimmtes Leben nicht ebenso an, dass auch ein Leben gelingen kann, das ohne das Neueste, das Teuerste, das Beste auskommt? Und nötigt es nicht auch ein wenig Respekt ab, dass hier Menschen eine Entscheidung gefällt haben – auf Hoffnung und auf den Verdacht hin, dass es sich im besten Sinne des Wortes lohnt, dem Wenigen treu zu sein, das in ihren Augen zählt?

Allein diese Fragen machen schon deutlich: Ordensleben ist immer auch eine Projektionsfläche von Sehnsüchten – zumindest für einen Moment, denn letztlich so leben wollen die Wenigsten. Doch diese Sehnsucht erzählt von dem Wunsch, ein sinnvolles Leben ohne viel Tamtam zu führen; ein Leben also, das sich nicht im täglichen Allerlei erschöpft und nicht vergeblich erscheint.

Doch Überraschung: Kein Ordensmensch ist die heilige Ausgabe von sich selbst. Und das bedeutet gleichsam, dass auch Ordensmenschen mit der Sinnfrage, dem Zweifel und allzu menschlichen Konflikten ringen, an Gott irre werden und immer wieder neu die Frage im Herzen tragen, was wirklich zählte – in der Gemeinschaft und im täglichen Leben.

Grundsätzlich geht es in diesen Auseinandersetzungen zumeist um die Treue: Die Treue zur Berufung, zum Gebet, zur Gemeinschaft, zu Sendung und letztlich die Treue zu den Verheißungen Gottes – es geht also um das Hoffen und den Glauben, dass in Gottes Liebe und Erbarmen jedes Leben mit seinen Verstrickungen Platz und die Chance hat, heil zu werden. Es geht darum, an dieser Zusage Gottes festzuhalten, auch wenn die eigene Befindlichkeit und die Wege der Welt genau dieses Lebensversprechen bisweilen konterkarieren.

Was zählt also? Es zählt die Treue zu Gott als dem Ganz-Anderen; zu dem, der in seiner Unverfügbarkeit nie erfassbar ist; zu dem, der höher ist als alle menschliche Vernunft und darin unverstanden  und in seiner Botschaft zugleich auch unerhört ist und bleibt. Kurzum: Es zählt die Treue zu dem Gott, der es Ostern hat werden lassen.

Um diese Treue zu ringen, führt nicht selten dazu, dass Wichtiges und Unwichtiges sich trennen. Was Empörung hervorruft, aber ein Strohfeuer bleibt, kann dann getrost zur Seite treten. Und was schon fast willenlos in die virtuelle oder reale Welt geplappert, geschrien, oder gepostet wird, darf als nur vermeintlich wichtig betrachtet werden. Das heißt: Was zählt, ist die positive Antwort auf die Frage: „Dient dies dem Leben?“ Und just in der ernsthaften Antwort auf diese Frage entfaltet sich dann auch die Treue zur Lebenszusage Gottes.

Doch was zählt noch? „Niemand ist eine Insel“, erklärt der Trappist Thomas Merton (1915–1968). Und das bedeutet, dass es nie darum gehen kann, nur für sich selbst den inneren Ausgleich zu suchen und zu leben. Über alle Konfessions- und Zeitgrenzen trifft sich Merton hier mit Martin Luther, der schon 1520 deutlich gemacht hat, dass sich das innere Beschenkt-Sein und die innere Freiheit immer den Weg zum Nächsten bahnen – und dies auch tun sollten. Es ginge gar nicht anders.

Was also zählt? Es zählt, in Treue aus der Lebensbotschaft des Evangeliums zu leben – und dies auch und gerade auf den Nächsten hin. Es geht um diesen doppelten Klang, in dem getragenes Leben schwingt.

In der Regel meiner Gemeinschaft heißt es: „Du hast einen priesterlichen Auftrag, für Menschen und Völker vor Gott zu wachen und zu beten und sie in die Erlösung Jesu Christi zu bergen.“ Es ist unsere Kernaufgabe, aus der Treue zum Evangelium zu leben und dabei „Menschen und Völker vor Gott“ ins Gebet zu bringen; für sie zu wachen.

Dies ist ein Dienst im Verborgenen; selten gesehen, selten gefeiert und doch wichtig, denn: Es gilt, vor Gott für Verstummte, Verantwortliche, Ringende und Geschlagene einzutreten. Es gilt aber auch, in der Weite des Herzens zu wachsen, um auch die Verstummten, Verantwortlichen, Ringenden und Geschlagenen zu erkennen, die auf den ersten Blick nicht gesehen werden. Es gilt also, mit wachsamen Augen und Herzen in der Welt unterwegs zu sein, die Zeichen der Zeit zu erkennen und für die Menschen und die Welt das Gebet zu suchen. All dies möge dem Leben dienen. Das zählt.

Das letzte Kapitel unserer Regel trägt die Überschrift „Hoffnung“. Und darin heißt es: „Wir gehen der neuen Welt entgegen. Halte dich an Christus Leben in allem aus der Liebe zu ihm. Weihe ihm Schwachheit und Kraft, Dunkel und Licht, Armut und Fülle.“

Christus in seiner Liebe für das Gebrochene und Unerlöste ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Lebens. Und das allein macht schon deutlich, dass es – und das mag banal anmuten, ist aber in der Konkretion gar nicht banal – um die Liebe geht, die er- und gelebt werden will. In Christus haben wir ein Vorbild, wie bedingungslos Liebe sein kann und wie sehr sie gerade darin dem Leben dient.

Und diese Bedingungslosigkeit bedeutet gleichsam, nichts zu verschweigen: Schwachheit und Kraft stehen damit gleichberechtigt nebeneinander, beide haben Anteil am Leben. Dasselbe gilt für Dunkel und Licht, ebenso für Armut und Fülle. Was zählt, ist, dass sie alle einen Ort haben, an dem sie nicht verurteilt, sondern als Teil des Lebens verstanden werden. Für uns Ordensmenschen ist dieser Ort die Liebe Gottes, die Liebe Jesu, denn wir glauben, dass Gott Gaben und Grenzen sieht, aufnimmt und vollendet. Mit anderen Worten: Wir glauben, dass die Brüchigkeit von uns Menschen in Gottes Liebe einen Ort hat, an dem sie aufgehoben ist, auch wenn dies in concretu meist nur zu erahnen ist.

Was zählt also? Es zählt für uns, dass wir uns dem liebenden und erbarmenden Gott verpflichtet wissen, der im Ostergeschehen so eindrücklich gezeigt hat, was dem Leben dient und wie sich dann das Leben gegen allen Tod durchsetzt. Und es zählt, daraus zu leben – in aller Brüchigkeit, in aller Unvollkommenheit, mit allen Grenzen, aber auch mit allen Gaben und mit allem, was gelingt, was Freude macht und dem Nächsten dient. Es zählt also, um die eigene Erlösungsbedürftigkeit und die eigene Endlichkeit zu wissen, auch wenn dieses Wissen selten komfortabel ist – und es zählt, mitten in dieser Erlösungsbedürftigkeit zu hoffen, dass das eigene Herz offen bleibt für das Wunder des Lebens und der Versöhnung.

Als Ordensmenschen haben wir das Privileg, dass wir dem Gebet, der Auseinandersetzung mit Gottes Wort, den Zeichen der Zeit sowie dem Ringen miteinander viel Raum geben können. Gebetszeiten schenken uns eine Struktur, das gemeinschaftliche Leben fordert heraus, tröstet, prägt und sorgt für graue Haare – und das Gebet ruft uns, Menschen in die Erlösung Jesu zu bringen, auf dessen Liebe wir all unsere Lebenshoffnung setzen.

Was also zählt? Es zählt die Hingabe an das, was dem Leben dient. Für uns ist es die Hingabe an Gott, der das erste und das letzte Wort spricht – und beides sind Worte des Lebens. Aus diesem Leben mit dem Ganz-Anderen leben wir. Und genau dieses Leben ruft uns, für das Leben anderer einzutreten – allemal im Gebet, aber auch in der konkreten Hilfe, in Projekten und in allem, was wir als Gemeinschaft in der Jugendarbeit, in unserem Alten- und Pflegeheim, in der Begleitung von Menschen, im Miteinander mit den Gästen oder einfach so in der direkten Begegnung tun, wenn Menschen uns auf der Straße ansprechen.

„Du bist berufen, gemeinsam mit deinen Schwestern und Brüdern Wohnort der Liebe Gottes in dieser Welt zu sein“, so sagt es unsere Regel und darin verdichtet sich unsere Sendung in dieser Welt. Damit ist zugleich genannt, was zählt: Es gilt, aus dieser Liebe zu leben
und sie genau deswegen zu verschenken – in Wort, Tat, Gebet und auch im schlichten Da- und Mitsein. Das zählt.

Text: Schwester Nicole Groschowina. Sie ist habilitierte Historikerin und unterrichtet an der Friedrich-
Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Artikelfotos: Ordensarchiv