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Weniger und Meer
Auszeit

Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer,
so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.

(Psalm 139, Verse 9 und 10)

Da bekennt ein Mensch, er beklagt es fast, dass sie oder er Gott nicht entrinnen kann. Auch nicht am äußersten Rand der Welt. Und ich drehe dieses Bekenntnis um und sage zu Beginn einiger Sätze über die Notwendigkeit zur Pause: Selbst wenn ich mich völlig zurückzöge, wenn ich eine mehr oder weniger radikale Aus-zeit nähme – Gott wäre auch dann bei mir und ich in seiner Hand.

Alle sieben Tage Pause

Gewöhnlich fängt man mit dem anderen Ende der Wurst an und sagt: Auf dem „Sich-Zurückziehen“ liegt Segen. Geh einen Schritt zurück, nimm Dir Auszeit, halte Sabbat … Das wird Dich Gott näherbringen. Und es gehört in der Tat zur guten Haushalterschaft über seine Kräfte, dass man Auszeiten nimmt. „Alle sieben Tage Pause“ und „Weniger ist mehr“.

Oder aber eben: „Weniger und Meer“ – äußerstes Meer. Äußerste Unerreichbarkeit: Das brauchen wir. Gelegentlich, aber immer wieder.

Nach dem Kirchentag im Juni muss das Pendel jetzt zurückschwingen. Wir brauchen Sabbat, nicht nur einen Tag, etwas Ruhe und Neuorientierung. Darum ist diese Ausgabe der Citykirche schlanker. Jetzt ist die Zeit. Jetzt ist die Zeit für Auszeit.

Aber die Wahrheit ist: Diese Zeit für Auszeit ist immer. Nicht nur nach dem Kirchentag. Ich muss mir den Sabbat nicht verdienen. Nein, ich brauche ihn sowieso und immer. Das galt schon vor ewigen Zeiten für Israel. Das gilt umso mehr in einer Zeit, in der uns Smartphones und Computer 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche vor uns hertreiben. Sich Auszeit zu nehmen ist die wichtigste geistliche Disziplin.

Im Stimmengewirr Gottes Stimme hören

Aber was heißt das? Dass zum christlichen Glauben, zum guten Leben genau dieses dazugehört: lernen, sich zurückzuziehen. Stille zu üben, Einsamkeit auf Zeit („Solitude“) zu üben. Oder, um nochmal dieses größte jüdisch-christliche Kulturgut zu bemühen: Eine individuelle Art zu finden, einen Sabbat zu halten. Das kann ein „Weniger-ist-mehr-Tag“ sein, tägliche Ruhepausen, Pilgern, Freizeiten, jährliche Auszeiten, Gottesdienste, Konzerte: Was auch immer zu uns passt. Hauptsache wir tun es.

Denn wir alle sind unzähligen Stimmen ausgesetzt. Werbung, soziale Medien, Propaganda: Es ist ein Konzert von Stimmen. Und viele davon sind zerstörerisch. Sie treiben uns. Sie versichern uns, dass wir nur etwas wert sind, wenn wir jung und schön sind. Sie verschieben unsere Ziele und beschädigen unser Grundvertrauen. Um als Christ*in in dieser Welt bestehen zu können, müssen wir lernen, in diesem Gewirr immer wieder Gottes Stimme zu hören. Das ist leichter, als mache*r vermutet. Aber es geht immer nur mit Zeit. Auszeit. Pause.
Was Gottes Stimme uns dann immer wieder sagen wird, das weiß ich. Zumindest auf einer tieferen Ebene. Obendrüber mag gelegentlich ein „Lass dies oder tu das“ zu hören sein. Aber im Tiefsten wird Gott uns nur eine einzige Sache sagen: Dass du sein heißgeliebtes Kind bist. Mehr nicht.

Jesus unterm Baum

Wenn wir uns regelmäßig die Auszeit dafür nehmen, das immer wieder von Gott gesagt zu bekommen, dann wird sich das in unserem Herzen festsetzen. Selbst Jesus hat sich immer wieder zurückgezogen, um mit Gott zu reden. Vielleicht saßen sie auch gelegentlich nur zusammen: Jesus unter einem Baum, Gott spürbar in seinem Herzen durch den Geist und die drei haben einfach nur genossen, dass sie zusammen sind. Auszeit. Ruhe. Die Versicherung: „Du bist mein geliebter Sohn.“ Nach solchen Zeiten ist Jesus mit neuer Kraft zurückgekommen.

Weniger und Meer. Weniger Stimmen von außen und das Meer als Metapher für das „weg vom Getöse“: Das äußerste Meer, zu dem ich mich mit den Flügeln der Morgenröte schwinge … Das ist ein Geheimrezept für gelingendes Leben und der Leitfaden dafür, wie ich meine Auszeit gestalte. Selbst wenn ich dabei neue, ungewöhnliche, radikale Wege gehe: Gott wird mitgehen.
Und nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.
Text: Jan Martin Depner
Foto: AdobeStock