Gesellschaft
Flucht über Grenzen
Flucht über Grenzen

Grenzen schützen. Grenzen trennen. Grenzen überschreiten ist hier und da ein Kinderspiel. Grenzenlose Mobilität innerhalb der EU ist selbstverständlich. Manchmal aber ist es nahezu unmöglich, Grenzen zu überschreiten.

Vor allem dann, wenn man flieht. Wenn man aus großer Not die Heimat verlassen muss und in unbekanntes Land aufbricht. Das ist nichts Neues. Menschen fliehen, seit es Menschen gibt. Jedes einzelne Schicksal aber ist dramatisch.

Millionen Menschen waren nach Ende des 2. Weltkrieges auf der Flucht. Sie fanden ein neues Zuhause im Westen Deutschlands.
Millionen Menschen sind derzeit auf der Flucht. Einige von ihnen finden ein neues Zuhause bei uns in Deutschland.

Barbara Maier* (80) ist als Kind geflohen – von Königsberg in Ostpreußen. Heute lebt sie in Nürnberg.

Ayad Khalaf Haun (26) ist vor drei Jahren geflohen – aus dem Nordirak.
Dort hat der sogenannte Islamische Staat (IS)
einen Völkermord an den Jesiden begangen. Ayad hat überlebt. Heute lebt er als anerkannter Flüchtling in Nürnberg.
Zur Schule gegangen ist er früher mit der Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad. Sie überlebte den Genozid des IS an den Jesiden und wurde in Gefangenschaft des IS versklavt, vergewaltigt und gefoltert.
Heute kämpft sie für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel.

BARBARA* 1944–1945

Der Bahnsteig: völlig überfüllt. Kinder werden durch die Fenster gereicht. Menschen stehen auf den Puffern der Züge. Alle wollen entkommen, die Russen rücken vor. Königsberg im Sommer 1944.

Hals über Kopf bricht die Mutter mit den vier kleinen Kindern auf.
Vor zwei Jahren ist der Vater im Lazarett gestorben. Sie reisen zunächst bis Wismar, dort wohnt die Schwester. Barbara, gerade sechs Jahre alt, kommt in die erste Klasse. Kurze Zeit später: Die Familie kommt auf einem Gutshof in der Umgebung unter. Und Barbara in eine neue Schule.
Alles ist knapp. Deutsche Soldaten, vor den Russen geflohen, haben ihre Mäntel weggeworfen. Die Mutter färbt den Stoff dunkel-
blau und näht den Kindern Mäntel und Mützen daraus.

Wieder rücken die Russen näher. Der Geschützdonner ist schon zu hören. Schnell muss jedes Kind packen: Einen Schultornister voller Unterwäsche.

Drei Kleider werden übereinander angezogen. In einem Treck mit mehreren Wagen machen sich die Menschen auf den Weg. Auf dem Leiterwagen darf nur die Gutsbesitzerin fahren, alle anderen müssen laufen. Auch der kleine Bruder mit seinen drei Jahren wird mitgezogen. Die Mutter schiebt ein Fahrrad – es wird ihr unterwegs weggenommen. Barbaras großer Bruder bleibt im Internat in Saxa.

Jede Nacht die Angst:
Wo übernachten? Heuschober und Scheunen gewährten Unterschlupf.

Die alte Tante sitzt nachts auf dem Leiterwagen und passt auf die Habseligkeiten auf. Es hilft nichts: Marodierende Banden überfallen sie. Spannen die Pferde aus, durchwühlen die Koffer, rauben das wenige Hab und Gut.
Eine Schaffnerkelle, das einzige Spielzeug des Kleinen, schleudert ein Soldat weg, sie bleibt unauffindbar. Das Wehklagen ihres kleinen Bruders hört Barbara bis heute.
Frauen wird Gewalt angetan, Angst und Entsetzen sind riesengroß.
Von einem Lastwagen werden sie aufgegabelt, welch ein Glück. Die Fahrt geht über die Grenze der Besatzungszonen: Russen – Briten.
Alles ist unklar: Wohin? Wo wohnen, wo unterkommen?
Sie finden Unterschlupf bei einer Familie. Dann wohnen sie zu sechst in einem einzigen Zimmer in Schleswig-Holstein. Später in einem ausgebauten Schuppen.

Bis zu ihrer Ausbildung besucht Barbara neun verschiedene Schulen.
Am 3. August 2014 überfallen IS-Terroristen die letzte Enklave der Jesiden im Nordirak. Sie ermorden innerhalb kürzester Zeit Tausende Männer und ältere Frauen. Auch jüng-ere Frauen und Kinder entführen und vergewaltigen sie und verkaufen sie dann weiter.
Tausende Menschen fliehen in das Sindschar-Gebirge. Auch Ayad mit seiner Familie.
Erst vor Kurzem hat er mit seinen Brüdern ein Haus für die Familie gebaut – sein Vater lebt nicht mehr, er wurde von IS-Kämpfern exekutiert.
Im Gebirge gibt es kein Essen und nur wenige Wasserquellen. Zahllose Menschen sterben vor Hunger und Durst, vor allem Alte und Kinder. Tagsüber ist es 45 Grad heiß, nachts sehr kalt.

Ayads Schwester gebiert dort ein Kind. Sie gibt ihm den Namen des Berges: Mattin. Nur selten werden Nahrungsmittel von Flugzeugen aus abgeworfen und wenn, danfallen sie in unzugängliche Felsspalten.

Nach neun Tagen gelingt es kurdischen Kämpfern, die Überlebenden in die syrische Stadt al-Hasaka zu bringen. Ayad und Teile seiner Familie kommen in der Gegend unter. Drei seiner Schwestern werden als Sexsklavinnen vom IS entführt.

Im Flüchtlingslager in Kurdistan gibt es keine Arbeit, kein Geld und keine Perspektive. Ayad will nach Deutschland.

Im Februar 2015 macht er sich mit anderen Jesiden über die Türkei auf den Weg. An der Grenze nach Bulgarien werden sie verhaftet: Pass, Geld, Uhr und Handys werden weggenommen. Eine Tonkugel aus heiliger Erde, Ayads letztes Stück Heimat, wird von den Polizisten zertreten.

Vier Tage im Gefängnis ohne Wasser und Essen, 17 Männer in einem winzigen Raum. Am 4. Tag „dürfen“ sie Wasser aus der Toilettenschüssel trinken, dann werden sie in ein „Heim“ mit 1.200 Männern gesteckt, es gibt pro Tag eine Scheibe Brot. Ayad und seine Freunde reißen aus. Sie kommen mit Schleppern über die Grenze nach Serbien und weiter nach Ungarn. Im Dauerregen stundenlange Fußmärsche wird Ayad sehr krank.

In Budapest wieder Gefängnis

Mit Schleppern weiter über Österreich nach Passau. Dort hilft ihm die Polizei mit Essen und einem Zugticket. Er kommt in ein Asylbewerberheim in Sachsen. Ein Kirchenasyl bewahrt ihn vor der Abschiebung nach Bulgarien.

Heute lebt und arbeitet Ayad in Nürnberg. Er ist anerkannter Flüchtling. Ayad spricht gut Deutsch und ist als Schweißer in seiner Firma sehr angesehen und beliebt. „Deutschland ist meine neue Heimat. Die Menschen sind sehr nett zu mir und ich bin sehr dankbar, dass ich in Frieden und Sicherheit lebe“, sagt er. Von seinem Lohn unterstützt er seine Mutter und Geschwister im Irak.
Drei seiner Schwestern leben in Baden-Württemberg. Das „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ hat 1.000 vom IS versklavten Jesidinnen geholfen und ihnen eine Traumatherapie ermöglicht – die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad ist eine von ihnen.

Nadias Appell lautet:
„Diese Welt hat nur eine Grenze.
Sie heißt Menschlichkeit.“

 

Text und Bilder:
Annette Lichtenfeld

 

*Name von der Redaktion geändert.

 

 

INFO:

Buchempfehlung zum Weiterlesen:
Nadia Murad: Ich bin eure Stimme:
Das Mädchen, das dem Islamischen
Staat entkam und gegen Gewalt und
Versklavung kämpft

Knaur-Verlag 2017
ISBN-13: 9783426214299
Gebundene Ausgabe 19,99 Euro