Teil IV – der Weg der Kirche
1914/2014 APOCALYPSE NOW?

Fragen wir nach dem Weg der Kunst (I), der Theologie (II) und des Lebensgefühls (III) nun zuletzt nach der Kirche in apokalyptischen Zeiten: Wo war und blieb sie, die mit wehenden Fahnen und vollem Geläut die Soldaten 1914 ins Feld schickte?

Die evangelische Kirche freilich stand in einem doppelten Dilemma gegenüber Preußens Gloria und Bayerns König: Der war – für uns Heutige ganz unvorstellbar! – selbst als Katholik summus episcopus – oberster Bischof der evangelischen Kirche in Bayern. Das war der Preis der Reformation, sich in weltlichen Angelegenheiten lieber dem jeweiligen Staat unterzuordnen, als die Kirche noch einmal der Macht des Papstes und der Bischöfe auszusetzen. Daher war in weltlichen Dingen kirchliche Solidarität gegenüber Staat und Obrigkeit gefragt.

In geistlichen Dingen hätte man freilich stutzig werden müssen. Denn der Friede Christi kommt gewiss nicht durch Preußens Gloria und Bayerns König in die Welt und hat mit deren Kriegen nichts gemein. Die fatale Lösung war nun, die geistliche Aufgabe zur Herzensangelegenheit zu machen und die Soldaten innerlich zu stabilisieren: sie mit Gebet und Segen in den Krieg zu schicken.

Schockstarre und Selbstmitleid
Aber dann gingen in Europa die Lichter aus. Der Krieg ging verloren. Kaiser und Fürsten wurden verjagt oder dankten ab. Die evangelische Kirche stand nur noch auf einem Bein: Die jahrhundertealte Verbindung, das Gegenüber von Thron und Altar, Dienst und Herrschaft, Gesetz und Evangelium, Macht und Mitbestimmung ging verloren. Sollte etwa der sozialistische Revolutionsführer Kurt Eisner nun oberster Bischof der evangelischen Kirche in Bayern werden? Da sei ferne!
Das Entsetzen 1918 geht noch tiefer. Sie fallen miteinander – konservative Theologen wie der Erzlutheraner Werner Elert oder liberale wie die bekannten Nürnberger Prediger Geyer und Rittelmeyer, fortschrittliche wie Paul Tillich – alle in die gleiche Schockstarre. Alle vereint bei Sören Kierkegaard „70 Tausend Faden tief“: Gott ist Gott und ganz und gar anders als unsere Religion und Kultur es bisher lehrten! Alle sagen das – nicht nur Karl Barth. Leider dauerte diese Schockstarre keine märchenhaften 100 Jahre, sondern löste sich alsbald wieder in die bekannten Positionen auf. Ach, wären sie doch alle erst wieder 2014 in unserer Welt erwacht! Was wäre ihnen und uns alles erspart geblieben!

Am 11. 8.1919 tritt die Weimarer Verfassung in Kraft, die das Ende des sog. landesherrlichen Kirchenregiments markiert. Für die evangelischen Kirchen wahrscheinlich das zweitwichtigste Datum – nach dem 31.10.1517!

Die Weimarer Republik – ach! – das war aber doch keine richtige, gottgewollte Obrigkeit, sondern eine von Menschen gemachte und gewählte Demokratie. Viele Pfarrer fanden überhaupt keine Einstellung zu diesem Gebilde.
In das Vakuum von Preußens Gloria und Bayerns König stopfen sie Selbstmitleid: Volk und Vaterland, die Dolchstoßlegende (Wer hat uns verraten – Sozialdemokraten!) und den Schandfrieden von Versailles. Sie ehren die gefallenen Helden, bauen Kriegsdenkmäler ohne Ende und bedienen genau jene Sehnsüchte und Erwartungen, die dann aus dem Zweiten, dem Kaiserreich schnurgerade in das Dritte Reich Adolf Hitlers führen. Nur ganz wenige merken, was an der Zeit ist.

Die Meisten fühlen sich verraten und verkauft. Da war nichts mehr, was sie beschützte und was sie schützen konnten. Welche Fahne sollten sie nun hissen? Die Weimarer etwa? „Schwarz-Rot-Senf“ spottete so mancher. Bis ein ganz Schlauer die Fahne der evangelischen Kirche in Deutschland erfand. Ich dachte immer, die gäbe es schon seit Jahrhunderten – nein, die ist noch keine hundert Jahre alt.

Kirchenfahne und Kirchenfarbe
Sie ist violett. Wundern muss man sich schon. Als liturgische Farbe symbolisiert Violett nicht nur die stillen Zeiten der Buße und des Fastens. Violett hat im Spektrum die geringste Leuchtkraft – komplementär zu gelb, der lichtvollsten Farbe. Aber die war schon katholisch besetzt.

Am 9.12.1926 wurde die neue, eigene Kirchenfahne – violettes Kreuz auf weißem Grund – beschlossen und bald in allen Landeskirchen eingeführt. Warum ist das so wichtig? Das gehörte bisher doch zu den sog. Adiaphora, den äußerlichen Dingen, die für den Glauben keine Rolle spielen!

Das Jahrhundert der Kirche
Nein, das ist eben der feine, schneidend scharfe Unterschied! Nach der Weimarer Verfassung muss die Kirche nun allein und selbständig zurecht kommen, muss sich nach der Trennung von Staat und Kirche, Thron und Altar, neu aufstellen, neu formieren. „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“ (Weimarer Reichsverfassung Art. 137)

Wurde sie vorher von königlich-bayrischen Konsistorien verwaltet, so muss sie diese Aufgabe nicht nur selbst übernehmen. Jetzt muss sie nicht nur verwalten, sondern auch gestalten! Äußerliches, wie Farben und Fahnen, wird auf einmal sehr wichtig. Sinn- und Glaubensfragen werden auf einmal als Gestaltungsfragen eingelöst. Die evangelische Kirche hat nun nicht nur Pfarrer und Diakone, sondern auch Schneider und Färber zu beschäftigen.

Kirchenmann Otto Dibelius ist begeistert: „Die Selbständigkeit der Kirche ist da. Nicht ohne Einschränkung! Aber aufs Ganze darf es gelten: Sie ist da! … Dass diese Kirche nicht fertig ist, dass sie sich erst ihrer selbst bewusst werden muss, dass das Neue erst von innen her mit Geist und Leben durchdrungen werden muss – das alles versteht sich von selbst. Aber noch einmal: Die evangelische Kirche ist da …

Wir stehen vor einer Wendung, die niemand hat voraussehen können. Das Ziel ist erreicht! Gott wollte eine evangelische Kirche.“

Das steht im „Jahrhundert der Kirche“ eben von Otto Dibelius, 1927. Das Buch war damals der Renner. Und es war violett. Das Programm einer grandiosen Aufbruchs- und Reformbewegung – modern: einer corporate identity – einer einheitlich sichtbaren Identifizierung der evangelischen Kirche.

Solch triumphale Zuversicht braucht keine Zeit. Das „Jahrhundert der Kirche“ dauert tatsächlich hundert Jahre – bis heute! Ganz ungebrochen können wir fortfahren: „Im Mittelpunkt stehen unsere Einstellungen, unser Selbstbewusstsein und Selbstverständnis als Kirche, mehr noch: im Mittelpunkt stehen unser Glaube und die Herausforderung, ihn glaubwürdig zu vermitteln … Ich denke, wir haben eine blühende, sehr kreativ und effektiv arbeitende Kirche, weil eine Handvoll höchst motivierter Frauen und Männer … sich weit über das übliche Maß hinaus – nicht selten ohne Rücksicht auf Gesundheit und Privatleben – engagieren.“

Sicher, das klingt nüchterner, moderner. Aber ist es nicht doch die gleiche Sprache, das gleiche Pathos, Kirche zu bauen, Kirche zu sein? Nicht nur die neue Farbe und Fahne, auch die Sprache scheint ein Jahrhundert Kirche ungebrochen überdauert zu haben, wenn es darum geht, Kirche in ihrem Wert für die Menschen zu behaupten, ja zu steigern. Selbstredend, dass die letzten Zitate, die sich beliebig vermehren ließen und deren Nachweis ich mir erspare, aus den neueren Verlautbarungen meiner Kirche stammen. Ganz ungebrochen wird Gottes Wille mit der faktischen Entwicklung hier und dort gleichgesetzt.

Alles nebensächlich?
Warum wir diese scheinbar nebensächlichen Dinge in der Vordergrund stellen, verdankt sich dem Umstand, dass unsere Kirche nach wie vor dieselben Identitäts- und Gestaltungsziele hat. Und natürlich wird uns wie damals viel Empathie und Euphorie abverlangt.

Wir haben uns zu verabschieden von diesem muffligen protestantischen Christentum, das den Pelzkragen lieber nach innen trägt. „Tue Gutes und rede darüber“ ist eine Devise, die sich im Gegensatz dazu auch vorzeigen und performen lässt. Die Laptop- und Designerkirche wird Maß und Zeit vorgeben, deren Erfüllung und Gestaltung uns dann Glück und Segen bringt. Natürlich wird für Gottes Geist, der ja bekanntlich weht, wo er will, noch ein Zeitfenster offen gehalten. Selbstverständlich haben wir auf unseren schnellen Rechnern noch genug Speicherplatz auch für die letzten Dinge …

Ob wir aber über die fatale Lösung für die Soldaten 1914 (s.o.) hinauskommen? Unser Herz zum Speicherplatz machen und unsere Kinder und Enkel, die Generation nach uns, nur innerlich stabilisieren: sie mit Gebet und Segen ins Feld zu schicken? Ob wir das anders und besser machen?

Der Schmerz, der Schrei eines Franz Marc, das Entsetzen Karl Barths, die coole Coco Chanel und zuletzt der alerte Otto Dibelius prägten die Berichterstattung.
Apokalyptisch denken hieß für uns nicht, den Teufel an die Wand malen, sondern verstehen, was Katastrophen, Abstürze, Weltuntergänge provoziert, befördert und verursacht. Getrost müsste die Verzweiflung sein, die Martin Luther kennt und Lothar Zenetti im Anschluss an Franz von Assisi vorgeschlagen hat:

Was keiner wagt, das sollt ihr wagen
was keiner sagt, sagt frei heraus
was keiner denkt, das wagt zu denken
was keiner anfängt, das führt aus

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen
wenn keiner nein sagt, sagt doch nein
wenn alle zweifeln, wagt zu glauben
wenn alle mittun, steht allein

Wo alle loben, habt Bedenken
wo alle spotten, spottet nicht
wo alle geizen, wagt zu schenken
wo alles dunkel ist, macht Licht.

(Text: Heiner Weniger, Bild: Archiv St. Sebald)