Gesellschaft
Am Anfang war das Wort…

Das ist das Motto, das über dem Logo der Lutherdekade steht. Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt es in diesem Themenjahr, in dem es um „Bild und Bibel“ geht. Es sind die ersten Worte des Johannesevangeliums (Joh 1,1-3: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.), die mit den ersten Worten der Bibel überhaupt korrespondieren (1 Mose 1,1-3: 1 Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.), denn beide Male geht es um einen Schöpfungsakt durch das Wort, durch die gesprochene Sprache.

Damit wird zugleich eine Idee vermittelt, die der evangelischen Kirche in die Wiege gelegt worden ist: Es kommt vor allem auf das Hören von Gottes Wort an – und zwar durch die Predigt. Und die Kirche ist als Gemeinschaft auf das Hören dieses Wortes gegründet; sie geht als Kreatur aus dem Schöpfungswort Gottes hervor. Wenn also „Bild und Bibel“ in diesem Themenjahr nebeneinander gestellt werden, dann ist damit dem Bild die schlechtere Ausgangsposition zugeteilt worden. Zumal das Bild sowieso unter dem Verdikt des alttestamentlichen Bilderverbots steht – oder zumindest zu stehen scheint.

Das bedingt auch eine grundlegende Entscheidung, die für uns in der Zeit der ersten Christenheit – und schon davor im Judentum – getroffen worden ist: Nicht den Bildern wird zugetraut, für die Verbreitung von Gottes Wort als veritables Medium zur Verfügung zu stehen, sondern dem Buch. Das Buch wird als Bibel, Gottes Wort wird als Heilige Schrift zum Träger-Medium, um allen nachfolgenden Generationen eine Verbindung mit dem Ursprung zu ermöglichen. Das setzt nicht nur eine getreue Überlieferung voraus, sondern auch die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens. Damit wurde das Schicksal des Christentums an das Schicksal des Buches gebunden. Und die Reformationszeit hat das noch einmal gesteigert. Sosehr Luther auf die viva vox des Evangeliums setzte, also auf das lebendige gepredigte Wort, sosehr wusste Luther aber auch, dass dieses Wort zunächst einmal in einem Buch steht. Seine Übersetzung der Bibel in die sächsische Kanzlei- und Amtssprache und die durch die Erfindung des Buchdrucks ermöglichte Massen-fertigung von Büchern führte zur Verbreitung der Heiligen Schrift und hatte einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung unserer gesprochenen und geschriebenen deutschen Sprache. Jede Chris-

tin und jeder Christ sollte in die Lage versetzt werden, seinen Glauben durch das Studium der Heiligen Schrift zu bilden und zu prüfen, ob die Lehre der Kirche mit der Lehre der Heiligen Schrift übereinstimmt.

…doch dann kam das Bild

Das Christentum hat sich also an das Buch der Bibel gehängt, traut diesem Buch viel zu und baut letztlich in allen ihren Vollzügen auf die (intime) Kenntnis dieses Buches. Man könnte es auch so sagen: Das Christentum entspringt einer literalen Welt und ist dieser Welt verhaftet geblieben. Die Frage ist aber: Könnte dieser Hang dem Christentum in unserer modernen Kultur nicht leicht zum Verhängnis werden? Denn wir leben nicht länger in einer literalen, sondern in einer multimedialen Kultur, in der das Buch nur noch ein Medium neben anderen, aber nicht mehr das Leitmedium ist.

Sicher, Bilder haben auch im Christentum fast von Anfang an eine wichtige Rolle gespielt, von den ersten religiösen Darstellungen auf Särgen in den Katakomben Roms, über die Ausmalungen von Kirchen und die bedeutenden Stiftungen von Kunstwerken von der Spätantike bis zum Hochmittelalter, bis hin zur modernen Kunst. In der Ostkirche haben sie sich als Ikonen nach langen und heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ikonoklasten und Ikonodulen (also zwischen denjenigen, die die Bilder ablehnten und denjenigen, die die Bilder verehrten) durchgesetzt und nehmen einen hohen Stellenwert ein. In der abendländischen Kirche war man sich immer ihres Wertes als biblia pauperum, als Bilder-Bibel für diejenigen, die nicht lesen konnten, bewusst.

In der Reformationszeit hat man dann ihren religiösen Zweck als Stiftung, um sich dadurch einen himmlischen Vorteil zu erkaufen, bekämpft, aber zumindest in der evangelisch-lutherischen Kirche gelten lassen. So finden sich bis heute in evanglisch-lutherischen Kirchen zahlreiche Kunstwerke aus vorreformatorischer Zeit, die nicht nur leerer, sondern auch ärmer wären, hätten wir sie nicht. Das Christentum hat sich das Bild also von der Bibel her dienstbar gemacht. Sicher hatten Künstler im christlichen Abendland immer auch noch andere Themen, aber biblische Motive und Themen machten das Gros der von der Kirche in Auftrag gegebenen Kunst aus. Das Kunstwerk war eine Magd der Kirche. Und doch hat sich die Kunst nicht nur von der Bevormundung durch die Kirche, sondern auch von der Bibel gelöst. Damit begann der Siegeszug des Bildes.

Und das Bild war stärker als das Wort…

Unsere moderne Kultur ist eine Kultur des Sehens und Hörens, des Visuellen und des Inszenierten, des vor Augen Geführten und des Scheins. Das heißt nicht, dass es keine Schrift und keine Bücher mehr gäbe. Aber diese Medien haben an Bedeutung verloren. Andere dagegen haben mindestens seit der alles revolutionierenden Entdeckung der Elektrizität und ihrer Dienstbarmachung stetig an Bedeutung gewonnen. Die Elektrizität, so würde es der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan sagen, ist das Medium der Moderne. Gäbe es keine Elektrizität, so gäbe es keine der modernen Medien, mit denen wir selbstverständlich aufgewachsen sind. Erst die Elektrizität hat zur Erfindung neuer und der Weiterentwicklung alter Medien geführt. Zwar ließen sich alle modernen Medien letztlich auf die Urmedien „Wort“ und „Bild“ zurückführen (die beigefügte Grafik soll das anschaulich machen). Aber das „Bild“ war eher als die „Schrift“. In der spanischen El-Castillo-Höhle sind Höhlenmalereien gefunden worden, deren Alter auf ca. 40.000 v. Chr. geschätzt wird. Die Schrift dagegen ist weitaus jüngeren Datums; die ägyptischen Hieroglyphen beispielsweise sind ca. 3200 v. Chr. entstanden. Und ihre Entstehung ist ohne das Bild nicht zu denken, denn die erste Schrift bestand aus piktographischen Zeichen, die das, was sie bezeichnen sollten, mit Bildern ausdrückten. Die Schrift aber ist die Grundlage des Buches und damit auch der Bibel. Das Bild ist also dem Wort und dem Buch von Anfang an eingeschrieben. So scheint also die literale Gesellschaft nur ein Zwischenspiel gewesen zu sein auf dem Weg zur Rückkehr zum Ursprung. Das Bild – so scheint es – hat sich gegen das Wort durchgesetzt. Alle modernen Medien sind nämlich in erster Linie visuelle Medien. 

So bleibt am Ende die Frage stehen, wie sich Christentum und Kirche – die in einer literalen Kultur zu dem geworden sind, was sie einmal waren – in einer visuellen Kultur zurechtfinden. Wird es Christentum und Kirche gelingen, ihre in Buchstaben gefasste Botschaft auch in einer visuellen Kultur so zur Darstellung zu bringen, dass das Wort Gottes, das am Anfang alles ins Dasein gerufen hat und in Jesus Christus Mensch geworden ist, auch weiterhin lebendig und kräftig ist und Menschen aufrüttelt, begeistert und in die Nachfolge ruft?

(Text und Grafik: Thomas Melzl)