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Biografie-Arbeit stärkt – und hat einen festen Platz in der Evangelischen Erwachsenenbildung
Das eigene Leben lesen lernen
Cornelia Stettner ist Expertin für Biografie-Arbeit.

Tag für Tag schreiben viele auf, was sie unternommen haben und was sie selbst und vielleicht auch die Welt bewegt hat. Manche halten Beobachtungen, Erinnerungen und Gedanken in Briefen oder zumindest in Urlaubs-Tagebüchern fest. Wieder andere finden künstlerische Ausdrucksformen für das, was sie im Innersten bewegt. Sie alle hoffen, so etwas festzuhalten, was die flüchtige Zeit gewöhnlich allzu schnell verrinnen lässt. 

Es geht um Überblick, ja Ordnung, Struktur und irgendwie immer auch um Sinnsuche. Wie konnte alles so kommen, wie es kam? Anekdoten und Überraschungen haben ihren Platz, aber eben auch tiefer reichende Fragen: Was ist schiefgegangen und was gelungen? Und warum? Für gläubige Menschen spielt immer noch eine weitere Ebene eine Rolle: Hat all das, was mir widerfährt, mit Gott zu tun? Und wie?

Wer sich so mit seinem Alltag und seiner Umgebung beschäftigt und darüber nachdenkt, tut das häufig eher intuitiv, wie es ihm oder ihr gerade in den Sinn kommt und ohne festen Plan – was entsprechenden Aufzeichnungen auch ihren Charme verleiht. Dabei ist es zugleich so etwas wie der perfekte Einstieg in eine noch weitergehende Beschäftigung mit dem eigenen Leben: Es quasi lesen zu lernen, dazu soll die sogenannte „Biografie-Arbeit“ anleiten und Hilfestellung leisten. Und die ist – nicht nur in Nürnberg – seit vielen Jahren auch in der Evangelischen Erwachsenenbildung fest verankert.

Aus gutem Grund: „Wenn ein Mensch erzählt, wird er für sich selbst vollständig – und auch für andere“, sagt Cornelia Stettner. 32 Jahre lang hat die Diakonin als Geschäftsführerin des Evangelischen Bildungswerks Nürnberg im Forum Erwachsenenbildung maßgebliche Impulse gesetzt – und nicht zuletzt Angebote zur Biografie-Arbeit mit aufgebaut. Inzwischen sind sie in einem eigenen Institut verankert, das über die Grenzen der Metropolregion Nürnberg hinaus für professionelle Qualifizierungsangebote und praxisbezogene Theoriebildung bekannt ist. Im Sommer wurde Stettner in den Ruhestand verabschiedet.

Aber die Biografie-Arbeit lässt sie nicht los – im beiderseitigen Sinn. Ist das denn wirklich eine Arbeit? „Ja“, sagt die 64-Jährige aus durchaus innerer Überzeugung, „und das beginnt mit einer aktiven Entscheidung für eine bewusste Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben“. Streng genommen müsste es also „Autobiografie-Arbeit“ heißen. Um Lebensgeschichte(n) geht es ja sonst in unterschiedlichen Bereichen, ganz allgemein in der Seelsorge, oft und speziell auch in der Seniorenarbeit. In der Autobiografie-Arbeit aber dreht sich alles um die konzentrierte Beschäftigung mit dem Ich und seiner Herkunft.

Grundidee und Ziel ist, so Cornelia Stettner, das eigene Leben verstehend zu gestalten, also „die Vergangenheit so auf Gegenwart und Zukunft zu beziehen, dass die Gegenwart Sinn gewinnt“. Wobei Faktoren wie Familie, Werte, Zeitgeschichte, Natur, Beziehungen selbstverständlich einzubeziehen sind. „Und es muss Platz sein für das Nicht-Gelingende und Unverfügbare.“ Dabei ist das durchaus keine Erfindung unserer Zeit, unterstreicht Stettner, sondern gehörte schon in der Antike zur Vorstellung von Lebenskunst. Vor allem ältere Menschen beschäftigen sich mit dem Rückblick auf ein dann längeres Leben, um sich etwas davon zu bewahren. 

„Inzwischen zieht sich das aber durch alle Altersstufen“, sagt Stettner – und das aus unterschiedlichsten Gründen. „Viele haben brüchige Lebenswege, aus familiären oder beruflichen Gründen, wegen Migration oder Schicksalsschlägen – all das kann Auslöser sein für die Beschäftigung mit der eigenen Biografie.“ Und: Die Erwartungen ans Leben sind massiv gestiegen, gegenüber früheren Generationen bieten sich viel größere Möglichkeiten und Freiheiten – was zu viel mehr Entscheidungen zwingt. „Vorgegebene Berufswege oder Rollenmodelle gibt es kaum noch.“ Umso wichtiger wird der „lesende“ Blick. Als billiger Trost kann und wird Biografie-Arbeit nicht dienen, um mit schwierigen und schmerzhaften Erfahrungen fertig zu werden. „Sie ist nicht mit einer Therapie zu verwechseln, aber sie stärkt ungemein.“

Text und Foto: Wolfgang Heilig-Achneck