Gesellschaft
Das Gelobte Land

Hunderttausende von Flüchtlingen wollen nacktes Elend und unerträgliche Bedrohungen in Ländern wie Syrien und Irak hinter sich lassen. Haben alles aufgegeben und hinter sich gelassen. Sich skrupellosen Schleusern anvertraut und oft ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Und nichts als ein paar Habseligkeiten bei sich. Nein, mit viel mehr, nämlich einem verständlichen, vielleicht aber auch erschreckenden Übermaß an Erwartungen und Hoffnungen.

Was seit Wochen und Monaten geschieht, das Wie, Wo, Warum und Woher ist längst in aller Ausführlichkeit beschrieben und geschildert. Und dennoch kann sich auch die Citykirche nicht ganz ausklinken. Ein Heft zusammenzustellen ohne eine Zeile zur dramatischen Aktualität und jenen Entwicklungen, deren Tragweite wir heute vielleicht kaum abschätzen können – das schien der Redaktion unvorstellbar. Ein paar Gedanken wenigstens sollen zum Weiterdenken und vor allem zum hoffentlich fruchtbaren Austausch anregen.

– Was die Menschen bewegt, äußerlich und innerlich, hat seinen Platz mitten in unseren, wie es so schön heißt: altehrwürdigen Kirchen. Und das bezieht sich in schöner Doppeldeutigkeit auf beide: jene, die sich über Hunderte und Tausende Kilometer hinweg aufmachen. Und uns andere, die wir erschüttert Anteil nehmen oder sich zu tatkräftiger Unterstützung herausgefordert fühlen. Und doch: Sind Dramatik und Brisanz wirklich schon angekommen auf Kanzeln und vor dem Altären? Ganz konkret: Wie und wo könnten und sollten auch unsere 

Innenstadtgemeinden ihren Beitrag leisten?
Mit Gebeten und Spenden zu reagieren – so wichtig das ist – wird nicht reichen: 
Was und wie es passiert, ist ein eminent politisches Geschehen. Sich damit zu beschäftigen, ist nicht lustig. Eher zum Verzweifeln: Niemand weiß, wie es gelingen könnte, die Krisen und Kriege in den Herkunftsländern der Flüchtlinge zu beenden und zu überwinden. Da keine „Lösungen“ erkennbar sind, scheitern diese – ausnahmsweise – auch mal nicht an den Kosten.

Der Neunzigjährige Muhammed Ramadan sitzt mit seiner Frau vor seinem Zelt in einem Flüchtlingslager in Atmeh, Syrien – sie sind vor der Gewalt in ihrer Heimatstadt in der Provinz Idlib geflohen.

– Eine Befürchtung sorgt, zumindest unterschwellig, bei vielen für ein mulmiges Gefühl: Wie soll das klappen – in wenigen Monaten womöglich eine Million Menschen aufzunehmen, und das nicht etwa nur für ein paar Monate, sondern auf lange Sicht? Ihnen tatsächlich jene sichere, verlässliche Existenz zu bieten, von der sie träumen, mit allem, was dazugehört? Reichen politisches Krisenmanagement und das überwältigende ehrenamtliche Engagement? Nicht nur das Bauchgefühl sagt: Nein. Vermutlich müssen wir „Solidarität“ neu definieren. Neben dem „Aufbau Ost“ wird der viel zitierte „Soli“ nun vielleicht auch und mehr für die Neuankömmlinge gebraucht. Viele ahnen und kaum einer wagt es offen auszusprechen: Wir werden zusammenrücken müssen – und zumindest diejenigen mit solidem Einkommen und guter Absicherung können ohne große Not auch etwas abspecken. Vom echten Teilen sind wir dann immer noch meilenweit entfernt.
– Dieser Gedanke ist richtig gewöhnungsbedürftig: Deutschland, das gelobte Land. War und ist es nicht eigentlich Israel, das „heilige Land“, dem dieses Etikett zusteht? Passt es nicht eher auf Amerika, ein Kontinent und ein Staat? Millionen Menschen hatten dort im 18. und 19. Jahrhundert Fuß gefasst, auf der Suche nach Freiheit und einer auskömmlicher Existenz. Nun rutscht Deutschland, zumindest auf dem „alten Kontinent“, in diese Rolle – die ihr nach der jüngeren Vergangenheit schwerlich zukam. Aber ehrlich: Sehen wir unser Land, wenn auch klammheimlich, nicht längst selbst als gelobte Weltregion? Das hat handfeste Konsequenzen, und die lassen sich nicht einfach „wegklicken“.
– Lange, allzu lange haben wir eine selbstkritische Frage ausgeblendet: Wo und wie haben Deutschland, Europa und „die westliche Welt“ womöglich selbst zur Entstehung und Verschärfung der Konflikte beigetragen, die nun Abermillionen Menschen zur Flucht nötigen. Als gewichtiger Faktor fällt in diesem Zusammenhang meist das Stichwort „Waffenexporte“. Doch die komplizierten historischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und Verflechtungen lassen sich damit allein kaum fassen.