Kirchentag
Kirchentag
Das ist Kirchentag
Friedlicher Protest im Frankfurter Bankenviertel beim Kirchentag 1987
Die kleine Tochter ist eingeschlafen: Michaela Schremser mit violettem Halstuch, dem Markenzeichen der Kirchentage in den 1980er Jahren.

PAUL SCHREMSER

Der Kirchentag in Nürnberg weckt bei den Redaktionsmitgliedern große Vorfreude und viele Erinnerungen an vergangene Kirchentage.

Den Glauben feiern und politischer Protest

Der Kirchentag in Nürnberg war meine Initialzündung für viele weitere Kirchentagsbesuche in den darauffolgenden Jahren. 1979 ist das frühere Veranstaltungskonzept komplett überarbeitet worden. Neu waren das „Feierabendmahl“ als zentraler Gottesdienst neben der Eröffnungs- und Schlussfeier sowie der „Markt der Möglichkeiten“ in der Messe. Mit dem Nürnberger Kirchentag unter dem Leitwort „Zur Hoffnung berufen“ hat sich das einst sehr fromme Protestantentreffen deutlich (gesellschafts-)politischer positioniert. Beim „Politischen Nachtgebet“ mit der damals umstrittenen Theologin Dorothée Sölle bis zu den Diskussionen zwischen Bundeswehrsoldaten und Zivildienstleistenden sind beim Kirchentag unterschiedliche, aber trotzdem christliche Positionen aufeinandergeprallt. Das Anprangern von gesellschaftlichen Missständen in Diskussionen und Bibelarbeiten ist bis heute Kennzeichen der Kirchentagsbewegung. Was allen Kirchentagen aber auch gemeinsam ist: Sie sind ein großes Fest des Glaubens, bei dem Verkündigung des Evangeliums, Gebet, Seelsorge und moderne Kirchenmusik tragende Säulen sind. Allerdings war es nur selten möglich, den Spirit der Kirchentage in den Alltag der Kirchengemeinden einzubringen. Neue geistliche Lieder und Musik mit Instrumenten der heutigen Zeit wie Gitarren und Schlagzeug, das ist verpönt in unseren großen, alten Kirchen. Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. Wenn hunderte Menschen in der U-Bahn zwischen Messe und Altstadt Kirchentagslieder singen und sich vom Gemeinschaftserlebnis des Kirchentags begeistern lassen, dann wünsche ich mir, dass das nicht nur alle zwei Jahre, sondern auch bei unseren ganz normalen Gottesdiensten möglich sein wird – nach dem Kirchentag in Nürnberg.

Text: Paul Schremser
Fotos: Paul Schremser

 

JAN MARTIN DEPNER

Ich war erst 11 Jahre alt

Mein erster Kirchentag war der von 1975. Vom 11. bis 15. Juni traf man sich in Frankfurt unter dem Motto: „In Ängsten, und siehe wir leben“. Und jetzt kommt das Verblüffende: Ich kannte das Motto tatsächlich noch. Obwohl ich damals so jung war, habe ich den Kirchentag ziemlich intensiv erlebt. Grundsätzlich gehöre ich eher zu den Kirchentagsmuffeln. Ich wäre nie extra zu einem Kirchentag gefahren. Aber immer, wenn einer in der Nähe war, bin ich hin. Zu Diskussionen, Konzerten und einmal – 1987 wieder in Frankfurt – auch zu einem großen Gottesdienst. Und ich habe es immer genossen und war immer ein bisschen stolz auf unsere Kirche. Dass mir mein erster Kirchentag 1975 aber in so lebhafter Erinnerung geblieben ist, lag daran, dass ich bei einer Aufführung mitgesungen habe. In einer riesigen Messehalle wurde ein modernes Oratorium aufgeführt. Ich weiß nicht, wie ich in den Chor kam. Ich erinnere mich an ein Probenwochenende in einer Jugendherberge und an die zwei Aufführungen während des Kirchentages. Gespielt wurde „Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ von Gottfried Neubert (1926–1983). Der Kirchenmusiker Neubert kam zum Probenwochenende, und unser musikalischer Leiter ermutigte uns Kinder, mit ihm zu reden und uns zu ihm zu setzen. „Das ist einer wie Johann Sebastian Bach, nur in unserer Zeit“, sagte der Chorleiter. Komisch, dass mir gerade das im Gedächtnis geblieben ist … Das und später die Messehalle, die Kuppel, das Licht und tausende Menschen, die da auf dem Messegelände herumwuselten. Und als ich vor ein paar Tagen das Logo des Kirchentages im Internet entdeckte, musste ich lachen. Ich erinnerte mich, wie es auf dutzenden von Fahnen, die vor dem Messegelände flatterten, zu sehen war und auf Plakaten in der U-Bahn und ich fühlte mich schlagartig wieder jung. Zu was Kirchentage nicht alles gut sein können.

Text: Jan Martin Depner
Foto: privat

 

ANNETTE LICHTENFELD

Eine warme Suppe

Den Kochlöffel habe ich noch immer. Er ist ungewöhnlich lang. Wenn ich damit in unserem großen Kochtopf eine Suppe umrühre, denke ich an den Kirchentag 2010 in München. Beim Abend der Begegnung goss es in Strömen und war gefühlt acht Grad kalt. Tapfer schoben wir uns mit unseren Kindern durch die Innenstadt von einem Stand zum anderen und staunten über so viele gut gelaunte Ehrenamtliche, die ihre Gemeinden präsentierten. Die katholische Gemeinde St. Andreas hatte wärmende Suppe gekocht – und verschenkte Kochlöffel. Ein bleibendes Geschenk. Ich habe viele Kirchentage besucht. Was immer gleich war: die bunte Menge der Menschen, spontanes Liedersingen in Trams und auf der Straße. Dann natürlich hoch erstauntes Wiedersehen mit längst vergessenen Bekannten: „Kann es sein, dass wir uns kennen?“. Nicht zu vergessen der fröhliche Austausch über die gemeinsame Studienzeit oder andere Erlebnisse. In jeder Stadt die langen Fahrten mit U-Bahnen zu einem bestimmten Vortrag, den ich unbedingt hören wollte. Und endlich angekommen, standen dann dort die Helfer*innen mit dem gefürchteten Schild: „Halle überfüllt“. Oft waren die kleinen Veranstaltungen, die ich – leicht verärgert – stattdessen besuchte, sehr interessant und bereichernd. Kirchentag ist anstrengend. So viel los. Man muss sehr gut organisiert sein. Das kollektive Geschnarche in Turnhallen brauche ich nicht mehr, dafür fühle ich mich inzwischen zu alt. Ganz besonders genossen habe ich immer die Zeiten der Stille in manchen Kirchen und Veranstaltungsräumen. Dass so viele Menschen gleichzeitig so ruhig sein können und dadurch eine ganz besondere Gebetsstille entsteht, das ist wunderbar. Da habe ich gespürt: Es geht beim Kirchentag natürlich um die Action, das bunte, vielfältige Programm. Aber letztlich ist es doch immer auch eine Suche nach der Begegnung mit Gott. Und wo die geschieht, das haben wir nicht in der Hand.

Text: Annette Lichtenfeld

 

BRIGITTE WELLHÖFER

Ich war noch niemals bei einem Kirchentag

Die Redaktionsmitglieder der Citykirche schreiben in dieser Ausgabe über ihre Erlebnisse bei den verschiedenen Kirchentagen. Da erst wurde mir bewusst, dass ich noch nie bei einem Kirchentag war und auch den Kirchentag 1979 in Nürnberg nicht einmal wahrgenommen habe, obwohl ich bereits seit 1972 in Nürnberg lebe. Umso mehr freue ich mich nun auf den Kirchentag dieses Jahr in Nürnberg und habe auch bereits Gäste bei mir vormerken lassen. Ich werde Veranstaltungen besuchen und mich ebenso persönlich einbringen. Gespräche und Begegnungen mit Menschen, die sich für die Zukunft der Kirche engagieren oder ihr kritisch gegenüberstehen, neue Wege gemeinsam suchen und auch einfach Spaß und Freude haben, dabei sein zu dürfen, das erwarte ich. Jetzt ist die Zeit!

Text: Brigitte Wellhöfer

 

HANNES SCHOTT

Inspiration und neue Freundschaft

Wenn ich an einen wirklich prägenden Kirchentag denke, dann war das für mich der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin. Zum einen bin ich als Theologiestudent herumgezogen und habe mir die damals wichtigen Menschen beider Konfessionen angeschaut und gemerkt: Die sind ja auch ganz normale Leut. Manche Erinnerungen an Begegnungen mit Kirchenprominenten verschwimmen allerdings mit anderen Kirchentagen: Wo konnte ich mir ein Buch von Heinz Zahrnt („Die Sache mit Gott“) signieren lassen? Wann hat mich Kardinal Lehmann aus Versehen angerempelt? Bei welchem Kirchentag hat sich Jürgen Fliege so arrogant geäußert, dass ich ärgerlich die Messehalle verlassen habe? Wo war das Riesenkonzert mit den „Wise Guys“? Es gab damals in Berlin die große Frage nach einem gemeinsamen Abendmahl, das vereinzelt sogar inoffiziell gefeiert wurde und anschließend für Ärger „von oben“ sorgte. Dieser Reichtum an Meinungen, Konfessionen und Religionen hat mich begeistert. Sogar der Dalai-Lama war damals zu Gast. Ich besuchte beim Kirchentag in Berlin aber auch gezielt Kirchenkabarett-Veranstaltungen und ließ mich inspirieren, was alles möglich ist. Begeistert hat mich dabei mancher Mut zur Albernheit, die immer überschwängliche Stimmung und die große Kreativität. Das hat mir damals einen großen Schub gegeben, wieder eigene Texte und Lieder zu schreiben. Jetzt darf ich selber am Kirchentag mit meinen Texten auftreten. Außerdem bin ich seinerzeit beim Kirchentag in Berlin mit einem anderen Theologiestudenten herumgezogen, den ich kaum kannte, aber mit dem ich im Bus (wir fuhren aus Neuendettelsau dorthin) beim Durchblättern des Programmheftes feststellte, dass wir gemeinsame Konzert- und Vortragsinteressen hatten. Dies war der Startschuss für eine seitdem große Freundschaft und später wurde er außerdem mein Trauzeuge. Ich freue mich sehr auf den Kirchentag in Nürnberg – auf volle U-Bahnen mit singenden Menschen, die Kirchentagsschals tragen. Auf gemeinsam gelebtes Christentum in ungewohnter Menschenmasse. Auf Begegnungen, Inspiration, Freundschaft – und Überraschungen. Denn die gehören auch zu jedem Kirchentag dazu. Über den Kirchentagsschal habe ich mich übrigens oft lustig gemacht. Spätestens am Samstag habe ich mir dann immer selbst einen gekauft.

Text: Hannes Schott
Foto: iStockphoto.com

 

WOLFGANG HEILIG-ACHNECK

Nürnberg 1979 – eine Offenbarung

Die Erinnerungen sind leider verschwommen und verblasst – und sie überlagern und mischen sich mit Bildern und Erzählungen, die das Erlebte zu konservieren versuchen. Tatsächlich hatte ich das Glück, insgesamt weit mehr als ein Dutzend Kirchentage mitzuerleben. Und der Nürnberger war 1979 für mich der Auftakt und Einstieg – und schon so etwas wie eine Offenbarung: Vor meinem inneren Auge ziehen noch Bilder vom gigantischen Abend der Begegnung auf dem Hauptmarkt vorbei und von der Lorenzkirche, in der die Menschen beim neuartigen Feierabendmahl so dicht gedrängt auf dem Boden saßen, dass man sich nur mühsam einen Weg über sie hinweg bahnen konnte. Und natürlich von der Messe: Ich war als Zivildienstleistender dabei und engagiert an einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten. Allein die Vielfalt dort fand ich faszinierend. Und die Atmosphäre – einfach unbeschreiblich. Kirche so zu erleben, ungezwungener als sonst, mit einer neu entdeckten Spiritualität und nah dran an den gesellschaftlichen und politischen Fragen der Zeit, das vermittelte eine Aufbruchstimmung. Später, ab den 1990er Jahren, konnte ich die Kirchentage regelmäßig als ehrenamtlicher Mitarbeiter im Pressezentrum miterleben. Einer der bewegendsten Momente war für mich 2019 der Auftritt des Bürgermeisters von Palermo, Leoluca Orlando, in der Dortmunder Westfalenhalle. Von dort ging das klare Signal aus, dass auch die Evangelische Kirche ihren Beitrag zur Rettung von Menschenleben im Mittelmeer leisten wollte. Und unvergesslich sind allemal die abendlichen Andachten mit einem Lichtermeer, auf dem Stuttgarter Schlossplatz wie vor dem Dortmunder Rathaus.

Text Wolfgang Heilig-Achneck
Fotos: privat